«Unterwegs», das Buch von Martin Nydegger und Hansueli Müller, ist eine aufschlussreiche Reise, bei der die beiden Autoren von ihren 75 Jahren kollektiver Tourismuserfahrung begleitet werden. In ihrem Werk befassen sie sich mit zwanzig strategischen Zielen für den Tourismus in der Schweiz, von Resilienz über Ästhetik oder Overtourismus bis zur Diversifikation. Sie diskutierten darüber mit zwanzig spannenden Persönlichkeiten. Entstanden ist ein facettenreiches Panorama, ein Sachbuch, das auf inspirierende Weise konkrete Lösungen für aktuelle Herausforderungen des Tourismus diskutiert und aufzeigt. In loser Folge präsentiert der Hotelier gekürzte Beiträge aus «Unterwegs» (Weber Verlag). Wir starten mit der Diskussion der beiden Autoren mit dem Touristikfachmann und Pionier der UNESCO-Biosphäre Entlebuch, Theo Schnider.
«Nachhaltigkeit hat Hochkonjunktur. Der Klimawandel und drohende Strommangellagen haben dem Thema Schubkraft verliehen. Damit wuchs die Chance, die Spannungen zwischen Umweltschützern und potenziellen Verursachern von Schäden und Emissionen abzubauen. Auch Hürden für eine zügigere Umsetzung von zukunftsfähigen Massnahmen wurden gesenkt. Dennoch leidet der Tourismus stärker unter Einsprachen als andere Sektoren, weil breite Teile der touristischen Aktivitäten in freier Natur angeboten werden. Nur allzu oft wird er pauschal als Umweltsünder dargestellt. Nun sollte die Gunst der Stunde genutzt werden, um Diskussionen weniger konfrontativ und mehr kooperativ zu führen: Nachhaltigkeit als Zukunftschance.
Zum Gespräch zur Nachhaltigkeit sind wir in die UNESCO-Biosphäre Entlebuch (seit 2001) gereist. Dort haben wir Theo Schnider, den ehemaligen Tourismusdirektor von Sörenberg und Initiator sowie langjährigen Direktor der Biosphäre Entlebuch, getroffen. Das Entlebuch hat sich seit Ende der 1990er-Jahre vom Armenhaus zur Modellregion für eine nachhaltige Entwicklung gewandelt.
UNESCO-Biosphäre Entlebuch – das Vorzeigemodell
Vor über 25 Jahren begann im Entlebuch die Diskussion, ob man sich bei der UNESCO als Biosphäre mit der nachhaltigen Entwicklung als oberster Zielsetzung bewerben soll. Die damalige Konstellation begünstigte das Vorhaben: reichhaltiges Naturpotenzial, grosse Heimatverbundenheit der Bevölkerung, starke Betroffenheit durch den neuen Moorschutzartikel in der Bundesverfassung, Schliessung von Betrieben, Rückzug des Militärs usw. «Es war eine schwierige Zeit. Das Entlebuch mit den acht Gemeinden galt als das Armenhaus der Schweiz», stellt Theo Schnider fest.
«Wir waren uns im Entlebuch schnell einmal einig, dass wir das Nachhaltigkeitsmodell anpassen und den Menschen mit all seinen Entscheidungen ins Zentrum rücken müssen. Es sind die Menschen, die informiert und motiviert werden müssen, ihre Entwicklung nachhaltig zu gestalten», erklärt Theo Schnider. «Die Annahme der Moorschutzinitiative stellte die Tourismusentwicklung im Entlebuch völlig infrage, denn über 50 Prozent der Gesamtfläche wurden unter Schutz gestellt. Deshalb suchten wir nach Entwicklungsoptionen. Man ist von der Naturlandschaft umgeben, die man hat – also ortsgebunden, Punkt! Wir mussten uns arrangieren und das Dilemma überwinden. Am Anfang meinten wir, wir können einfach das vermeintliche Handicap zur Chance machen, in-dem wir ein internationales Kompetenzzentrum für Moorlandschaften schaffen und so Wertschöpfung generieren. Doch das war zu einseitig. Uns wurde bewusst, dass wir durch weitere andere natürliche Einzigartigkeiten geprägt sind: Karstgebiet, Jagdschutzgebiet, Auenlandschaften, aber auch ganz spezielle Menschen.» So hätten sie sich informiert, Wissen gesammelt, mit vielen Akteuren diskutiert und seien zum Schluss gekommen, dass es sich beim UNESCO-Programm «Man and the Biosphere» um eine gute, intelligente Idee handle. «Uns war klar: Ein solches Vorhaben braucht einen Akzeptanznachweis. Als erste UNESCO-Biosphäre der Welt realisierten wir eine Bevölkerungsabstimmung. Nebst der Erarbeitung eines überzeugenden Konzeptes mussten wir Betroffene mit ins Boot holen und leisteten einen enormen Kommunikationsaufwand.» Auch der damalige Name «Biosphärenreservat» als Vorgabe der UNESCO sei verwirrend gewesen. Ohne Biosphäre hätte sich die Verarmung und damit die Abwanderung wohl fortgesetzt, und das Entlebuch wäre heute weniger klar positioniert. Es würde der Stolz fehlen, eine einzigartige Region zu sein.
Martin Nydegger weist auf den allgemeinen Fehler hin, den Menschen nicht ins Zentrum des Nachhaltigkeitsdreiecks zu stellen. «Aufgrund des Verdikts, dass die Hälfte der Fläche im Entlebuch als Moore von nationaler Bedeutung unter Schutz gestellt wird, musste der Umwelt automatisch eine hohe Bedeutung beigemessen werden», stellt Hansruedi Müller fest. Die UNESCO verlange einen klaren Nutzungszonenplan mit den Moorbiotopen als Kernzonen, den Pflegezonen mit extensiven Nutzungen und den Entwicklungszonen. Theo Schnider ergänzt, dass die Gewichtung durch die Verteidigung der Eigeninteressen stattfinde. «Wenn der Mensch beim Wunsch nach intelligentem Wachstum im Zentrum steht, kann der Kampf überwunden werden.»
Wie damals im Entlebuch vor 25 Jahren stelle sich heute überall die Frage: Wie kann die Notwendigkeit der nachhaltigen Entwicklung als Chance genutzt werden? Martin Nydegger: «Den Klimawandel also nicht nur als Bedrohung, als Handicap, als Erschwernis sehen, sondern aus einer Chancenperspektive angehen: Welche Optionen haben wir, um die Zukunft für die Unternehmung, für die Mitarbeitenden, für die Bevölkerung zu sichern?» Den Menschen mit seinen Entscheidungen, mit seiner Verantwortung ins Zentrum zu stellen, sei zielführend.
Es brauche Persönlichkeiten, die die Chancen der Krisen erkennen, Leadership zeigen und mit Menschen umgehen könnten. Hansruedi Müller weist auf Bertrand Piccard hin, der mit der «Solar Impulse» ohne fossile Brennstoffe und ohne Abgase rund um die Erde flog. Piccard habe einmal festgestellt, dass Innovation nicht primär darin bestünde, neue Ideen zu haben, sondern vor allem darin, sich von alten Mindsets zu verabschieden1. Und Theo Schnider ergänzt: «In schwierigen Zeiten haben Menschen quasi bessere Zeiten
als gemeinsames Ziel. Und Not mache bekannterweise erfinderisch.»
Theo Schnider erzählt, dass der lange Weg des Change-Prozesses zwischenzeitlich sehr emotional gewesen sei. Gute Weggefährten und immer wieder eine klare Zielfokussierung seien unerlässlich gewesen. «Zentral war jedoch die Kommunikation, also der Versuch, trotz aller Widerstände einen gemeinsamen Weg zu finden. Wir stützten die Idee mit einem eigenen Kooperationsmodell breit ab und wussten: Wege entstehen, indem wir sie gehen. Heute ist es etwas einfacher, denn der Erfolg hat uns recht gegeben.» Aber das Modell müsse immer wieder legitimiert werden, am besten von aussen. Die UNESCO mache alle zehn Jahre ein Auditing, stelle Fortschritte, Probleme, Herausforderungen und Veränderungen fest und leite daraus Erkenntnisse ab. 2022 sei man zum zweiten Mal als Modell «Vorbild für die Welt» ausgezeichnet worden, insbesondere wegen der aktiven Partizipation der Bevölkerung. Das mache Stolz, gebe Antriebskraft und eröffne wieder neue Perspektiven.
Masterplan mit Netzwerkorganisation
Wir fragen, welche Fähigkeiten zentral seien, damit der Prozess gelinge. Theo Schnider meint, dass es ein Mix sei aus Kompetenzen in einzelnen Nachhaltigkeitsbereichen, z. B. Regionalökonomie, Tourismus, Natur- und Umweltschutz sowie Politik, und einer hohen Kommunikations- und Begeisterungsfähigkeit, also dem Talent, Leute mitzunehmen. «Als Feuerwehrkommandant und Naturgefahren-Krisenmanager habe ich gelernt, auch in brenzligen Situationen in Optionen zu denken, immer wieder auch andere Wege in Erwägung zu ziehen. Nachhaltigkeit hat viel zu tun mit Flexibilität und der Bereitschaft, gegebenenfalls auch Zusatzschlaufen einzulegen.» Es brauche aber Kontrollmechanismen, zum Beispiel im Bereich der Regionalprodukte, also ein professionelles Markenmanagement. Sonst würden weder Grossverteiler noch Konsumenten mitmachen. Sie hätten mit «Echt Entlebuch» mit Qualität und Kreativität überzeugen müssen, denn niemand habe auf sie gewartet.
«Für jede Gemeinde streben wir unterschiedliche Positionierungen an», konkretisiert Theo Schnider: «Auf der Rossweid in Sörenberg wurde der 08/15-Spielplatz abgebaut und der Fokus auf die lokalen Moorerlebnisse mit einem Wasserspielpark und einem rollstuhlgängigen Sonnentauweg gelegt. Oder im Flühli wird das Thema Wasser mit Kneippanlage usw. inszeniert, in Hasle Heiligkreuz das Thema Spiritualität mit Wallfahrtskirche und Seelensteg, in Entlebuch warten E-Bike-Angebote, um den Energiepfad zu entdecken, in Marbach Foodtrails und in Doppleschwand/Romoos Waldspielplätze. Insgesamt haben wir gegen 40 Ranger respektive Exkursions- und Kursleiter mit unterschiedlichen Spezialisierungen unter Vertrag.»
Auf dem Nachhaltigkeitspfad einer Destination brauche es einen Masterplan mit gemeinsamen Werten und Strategien sowie eine starke Netzwerkorganisation zur Umsetzung der Absichten.
In der Biosphäre Entlebuch seien Kompetenzbereiche wie Landwirtschaft, Gewerbe, Tourismus, Verkehr, Energie, Bildung, Kultur usw. gebildet worden. Im Zentrum habe die Frage gestanden, wie sie wettbewerbsfähig bleiben können. Die Ziele und Massnahmen wurden und werden noch immer in einem Kooperationsmodell koordiniert. «An den Workshops wird gegenseitig abgefragt, was man mit den angedachten Massnahmen anderen Bereichen bieten kann», sagt Theo S. So würden überall Schnittstellen mit Kooperationspotenzialen entstehen, die vertieft würden. Diese vernetzte Dynamik führe zu einem intelligenten Wachstum, zu einer nachhaltigen Entwicklung weit über den Tourismus hinaus. «Lebendige Beziehungen zwischen Menschen – das ist unser Markt», ist Theo S. überzeugt. Bei der zunehmenden Komplexität der Aufgaben werde in einer derartigen Netzwerkorganisation die kollektive Intelligenz einer Region optimal genutzt. Zudem sei sie Garant für die Akzeptanz der Vorhaben. «Zukunft entsteht, wenn Beziehungen gelingen.»
Fazit: Drei wichtige W
Eine Entwicklung ist dann nachhaltig, wenn sie die heutigen Bedürfnisse zu decken vermag, ohne künftigen Generationen die Möglichkeiten zu schmälern, ihre eigenen Bedürfnisse zu decken. Nachhaltigkeit darf nie als etwas Statisches, sondern muss als permanenter, offener Such-, Lern- und Gestaltungsprozess verstanden werden. Das nationale Nachhaltigkeitsprogramm Swisstainable verfolgt vier Ziele: (1) den Gästen Orientierung geben, (2) touristische Betriebe und Destinationen bei ihren Nachhaltigkeitsbestrebungen unterstützen, (3) die Schweiz als nachhaltige Destination positionieren, (4) einen Beitrag zu einer nachhaltigen Entwicklung der Schweiz leisten.
Vor diesem Hintergrund ist es an jedem Betrieb, jedem Verband und jeder Destination, für sich herauszuarbeiten, welchen Beitrag zu diesen Zielsetzungen geleistet werden kann. Dabei seien die drei Ws wichtig: Wissen, Wille und Wirkung, meint Theo Schnyder. Die UNESCO-Biosphäre Entlebuch hat eindrücklich gezeigt, wie eine lernende Region einen Nachhaltigkeitspfad erfolgreich beschreiten und eine klare Positionierung erreichen kann. Dabei ist die Kommunikation zentral, also der Versuch, trotz aller Widerstände einen gemeinsamen Weg zu finden, denn Nachhaltigkeit hat viel mit Beziehungsarbeit und Flexibilität zu tun. Nachhaltigkeit braucht einen Masterplan mit gemeinsamen Werten und Strategien sowie eine starke Netzwerkorganisation zur Umsetzung der Absichten.»
1 Anlässlich «Gstaad Impact» vom 10.2.2023.
Unterwegs, Martin Nydegger, Hansueli Müller, erschienen im Weber Verlag,
Gwatt/Thun, 400 Seiten, 56 Abbildungen, 49 Franken
Porträt Theo Schnider
– Ausbildung zum Wirtschaftskaufmann
– Weiterbildung zum Tourismusfachmann HF, Natur- und Umweltfachmann, Marketingplaner und Journalisten sowie Weiterbildungen im Risk-, Disaster-, Brand- und Innovationsmanagement
– Von 1980 bis 2001 Tourismusdirektor Sörenberg
– Von 2002 bis 2022 Direktor der UNESCO-Biosphäre Entlebuch
– Seit 2018 Verwaltungsratspräsident der Bergbahnen Sörenberg AG
– Diverse Preise: Milestone für das Lebenswerk (2007), TO DO Award: Preis für sozialverantwortlicher Tourismus an der ITB Berlin (2008), Tourismus Award Luzern Zentralschweiz (2019), Doron Wirtschaftspreis für nachhaltige Regionalentwicklung (2021)
Unterwegs
400 Seiten, 130 mm × 230 mm
Fadenheftung, Hardcover
Mit 56 Abbildungen
ISBN 978-3-03818-539-0
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