Seit 140 Jahren empfängt das Grand Hotel Villa Castagnola in Lugano Gäste – und schafft dabei den Balanceakt zwischen Tradition und Moderne. Zum Jubiläum gibt es eine kulinarische Stabsübergabe.
Anita Suter
Am gefährlichsten sei das Segeln im Mittelmeer, und nicht etwa im offenen Ozean, erklärt Ivan Zorloni. Dort könne nämlich quasi aus dem Nichts ein Sturm aufziehen. Genau wie hier, im Tessin. «Und dann muss man schnell eine Lösung parat haben», so der 62-Jährige. Stürme zu bewältigen weiss Ivan Zorloni nicht nur am Ruder seines Segelschiffs, sondern seit der Pandemie auch als Direktor des Fünfsterne-Superior-Hotels Villa Castagnola. Als dem Grand Hotel an bester Luganer Seelage von einem Tag auf den anderen die wichtige Klientel der Geschäftsreisenden abhandenkam – da war Reaktionsfähigkeit gefragt.
Aus Meetingräumen wurden Bastelzimmer
«Wir mussten neue Gäste ansprechen. Also haben wir uns auf Familien fokussiert», blickt er auf eine Zeit zurück, in der das Tessin das südlichste erreichbare Ferienziel für Schweizerinnen und Schweizer darstellte. Salons, die seit den 80ern als Seminarräume fungierten, wurden zu Bastel- und Spielräumen umfunktioniert. Auch wenn heute darin wieder Meetings und Seminare abgehalten werden, hat sich die Gästesegmentierung nachhaltig verändert. Der Anteil an Business sei gesunken, Leisure entsprechend gestiegen, so der Direktor. «Vor allem unsere Gäste aus den USA schätzen die Villa mit ihrem einzigartigen Ambiente, bevorzugen sie gegenüber den gängigen Hotelketten, die sie ja auch zu Hause finden.»
Allein schon das Knarren der Dielen im grossen Salon erzählt von der langen Geschichte der Villa, die Wandteppiche und der antike Kamin von der Kunstaffinität der Besitzerfamilie. Wer sich Zeit für die Erkundung des verwinkelten Gebäudes nimmt, fühlt sich ein wenig wie in einem Museum, in dem es nebst Gemälden und Skulpturen auch zahlreiche Ecken zum Verweilen gibt – wie in einem grossen, gemütlichen Zuhause. «Sehen Sie? Wir sind eben viel mehr eine Villa als ein Hotel», lächelt der Direttore.
Mehr Stockwerke, weniger Zimmer
1880 als Wohnsitz der russischen Adelsfamilie Von Ritter erbaut, wurde die Villa Castagnola im Jahr 1885 von einem jungen Schweizer Ehepaar aus der Familie Schnyder von Wartensee gekauft und in ein Hotel verwandelt. Seit 1982 befindet sich das Grand Hotel im Besitz der Tessiner Familie Garzoni – zu der auch die Frau von Ivan Zorloni gehört.
Nach aufwändigen Renovationen sind aus drei fünf Stockwerke geworden, aus zwischenzeitlich 108 Zimmern deren 70 – rund die Hälfte davon Suiten und Junior Suiten. Allen gemeinsam ist der betörende Ausblick über den hoteleigenen, subtropischen Park zum Monte San Salvatore, der aus dem Luganersee ragt.
Am Seeufer – kleiner Wermutstropfen ist die Strasse, die es vom üppigen Park und der Villa trennt – befindet sich der hoteleigene Lido. «Spätestens im Sommer werden wir dadurch jeweils zu einem richtig gehenden Resort», sagt Zorloni – und verweist dabei auch gleich auf den Indoor-Pool mit Parkzugang, das Spa-Angebot und die drei Restaurants.
Neuer Executive Chef am Werk
Kulinarisches Aushängeschild ist das renommierte und mehrfach ausgezeichnete Restaurant «Arté al Lago» (16 GaultMillau-Punkte) mit integrierter Kunstgalerie. Anders als das «Le Relais» (Gourmet, 15 GaultMillau-Punkte) und das «La Rucola» (Easy Dining) befindet es sich ausserhalb der Villa, dafür – wie der Name schon sagt – direkt am See. Nach 25 Jahren erfolgreicher Zusammenarbeit hat Executive Chef Frank Oerthle das kulinarische Zepter Anfang des Jahres an Alessandro Boleso und dessen Stellvertreter Junio Carlo Pini übergeben. «Beide arbeiten schon viele Jahre für uns. Ich bin überzeugt, dass sie in unserem Arté die Tradition der exzellenten Kulinarik mit eigenem Konzept fortsetzen werden.»
Seit 45 Jahren im Team
Kontinuität ist in der Villa Castagnola ohnehin ein wichtiges Thema. «Wir haben viele Mitarbeitende, die schon seit Jahrzehnten da sind», so Zorloni, selbst seit 35 Jahren im Amt. «Franco, unser Leiter Frühstück, arbeitet seit 1980 für die Villa Castagnola. Das sind 45 Jahre!»
Wie gelingt es, die Leute in einer von hoher Fluktuation geprägten Branche zu halten? «Wir begegnen einander mit viel Wertschätzung und Respekt. Wenn wir 140 Mitarbeitende beschäftigen, sind das bis zu 140 Familien, die von uns abhängig sind.» Zu diesem Anspruch gehöre es auch, seinen Bereichsleitenden Vertrauen zu schenken. Er sei ein Hotelier der alten Generation und müsse sich nicht mehr mit allen neuen Technologien und Trends auseinandersetzen, so Zorloni. «Als mich unsere Sales- & Marketing-Verantwortliche erstmals mit der Anfrage einer Influencerin konfrontierte, dachte ich, es handle sich um einen Gast mit Grippe (ital. «influenza»)», erzählt er mit einem Schmunzeln. Er stehe Neuem grundsätzlich offen gegenüber. «Aber meine Mitarbeitenden müssen mir glaubhaft vermitteln können, dass sie selbst von einer Idee oder einem Projekt überzeugt sind.»