Weihnachtsgeschichte vom 23. Juni: Heiliges im Hotel

Weihnachtsgeschichte vom 23. Juni: Heiliges im Hotel

Es war der 23. Juni 2025. An diesem Montag flog die Medienmitteilung «Achtsamkeit trifft auf alpine ­Eleganz: ­Sanctum × Chedi» in der Redaktion ein. Die popreligiöse Heilsformel war geboren: Das Heilige × Chedi. 

Am selben Tag flatterten zwar keine Engel, aber zwei weitere Mitteilungen ins Haus – nicht in den Stall. Die Weihnachtsgeschichte für den «Hotelier» 2025 war geboren. 

Sanctum ist ein «Mindful-Movement-Konzept», das Stille, Bewegung, Natur und exklusive Gastfreundschaft verbindet. Es umfasst verschiedene Elemente: Fitness, spirituelles Wachstum, Meditation, mön­chisches Schweigen, Visionssuche, Kundalini-Yoga, Kampfsport, Atemarbeit, Intervalltraining, Tanz, elektronische Musik, Klanglandschaften und Spoken Word. Dieses Konzept verspricht eine «Mindful Euphoria» für Körper, Geist und Seele. Die Euphorie wird nicht nur angeboten, sondern auch noch mit einem begrifflichen Goldschleifchen verziert. Sie wird «kuratiert» von zwei Achtsamkeitspionieren. Um Ablenkungen zu vermeiden und die Aufmerksamkeit auf die Achtsamkeit zu lenken, wird die Begeisterung über Kopfhörer mit dem unverkennbaren «blauen S» vermittelt. Ein Zeitgeist-Smoothie aus fast allem, was im Sommer gerade «in» war. 

Auf der nach oben offenen Marketing-Begriffsspirale wird das Ganze als «Sanctum», als Heiligtum, als das Heilige, angepriesen. Damit erreicht die Spirale einen vorläufigen Höhepunkt. Drunter geht es wohl nicht mehr. Das popreligiöse Programm sei «mehr als ein Retreat». Es handelt sich um ein «modernes Ritual» mit interdisziplinärem Ansatz in «moderner Achtsamkeitspraxis» an «spektakulärer Lage im Urserntal» mitten im «beeindruckenden Gotthardmassiv». Der spirituelle Tiefgang konnte je nach Bedarf und Budget in drei Achtsamkeitspaketen gebucht werden: «Präsenz» (drei Tage), «Verbindung» (fünf Tage) und «Transformation» (sieben Tage). Auch Medienver­treter konnten bei der Ankunft des Heiligen dabei sein. Allerdings mussten sie sich für die «Opening- oder Closing-Ceremony» akkreditieren und konnten nicht wie die Heiligen Drei Könige von sich aus einem Stern folgen. 

Die Dauer der «Sanctum»-Pakete – drei, fünf oder sieben – lässt auch Ahnungen zur Zahlenmagie und zum Numinosen aufsteigen. Der Volkskundler und Ehrendoktor der Universität Freiburg, Josef Zihlmann, spricht vom «heiligen Schauer», der Menschen überkommt, wenn sie die Zahl 3 (z. B. Dreifaltigkeit) oder 7 (z. B. heilige Siebenschläfer, sieben Schöpfungstage, Märchen: sieben Zwerge, hinter den sieben Bergen, ­sieben Streiche, Siebenmeilenstiefel) nennen. Zur 5 fiel ihm übrigens nur die Anzahl der Finger an einer Hand ein. («Heiliges und Unheiliges in Zahlen» im Buch 
«Sie rufen mich beim Namen») 

 

 

Sanctum – verhüllt und zweideutig
Das Adjektiv heilig sei «von allem anfang an auf das geistliche heil, die erlösung von der sünde bezogen. so ist es ausschliesslich ein cultuswort». So steht es im Wörterbuch der Brüder Grimm. Der bedeutende katholische Theologe Karl Rahner beschreibt in seinem «Kleinen theologischen Wörterbuch» den Begriff des Heiligen als etwas, das «schlechterdings alles bezeichnen kann, was von Menschen verehrt wird». Seiner Meinung nach entziehe sich der Charakter des Heiligen ins «Verhüllte und Zweideutige». Es sei für die Menschen gleichzeitig ein «Notwendiges» (es kann den Sinn des Daseins in der Welt überhaupt garantieren) und ein «Freies» (es kann nicht gefordert, sondern nur erhofft werden).

Der Volkskundler definiert das Heilige nicht, sondern beschreibt heilige Orte (Gnadenorte), an denen Heilige verehrt werden. Zihlmann schreibt, diese würden den Menschen helfen, den «von der Geburt bis zum Tod mit Unzulänglichkeiten gepflasterten Weg zu gehen». Die besuchten Heiligen seien dabei «mehr oder weniger persönliche Bekannte», die sich «mit Du an­­reden» lassen. Diesen «heiligen Fürbittern», die zum Teil sehr populär sind, werden persönliche Sorgen, ­Bitten und Wünsche anvertraut. Dazu gehört(e), im Falle der Erfüllung des Anliegens, auch einen Fünf­liber oder ein anderes Opfer zu versprechen. Ein Deal der besonderen Art. Das popkulturelle «Sanctum» im Hotel scheint in gewisser Weise ein menschliches Bedürfnis trendig weiterzuführen – und das hat (s)einen Preis. 

Was Mönche verschiedener Religionen in jahrelanger Übung zu erreichen versuchen, verspricht «Sanctum» in maximal sieben Tagen. Auch Gott hatte die Welt in sieben Tagen geschaffen. Da werden «Sanctum»-Begeisterte in einer Woche doch einen Weg zu sich selbst finden. Achtsamkeit im Tempo unserer Zeit. «Tempo ist die neue Währung», lautete der Titel eines Artikels zur Zukunft der Betriebswirtschaft. Er er­schien auch am 23. Juni 2025 (Frankfurter ­All­gemeine Zeitung). So wurde dieser Titel Teil ­unse­­rer sommerlichen Weihnachtsgeschichte. Denn bei «Sanctum», mitten im Gotthardmassiv, geht es letztlich auch um «Betriebswirtschaft» bzw. den ­persönlichen Betrieb in der Wirtschaft.

 

 

Trend und Gegentrend
Zu jedem Trend gibt es einen Gegentrend: Zu Fast Food gehört Slow Food. Zum Tempo gehören die ­Langsamkeit, die Ruhe und die Achtsamkeit. Zum Business-Modell «Sanctum» gehört der «Verein zur Verzögerung der Zeit», der in der Schweiz, Deutschland, Österreich und Italien vertreten ist. Mit Witz und Humor möchte man dafür sorgen, nicht unter die «Zeitpresse» (Vereinszeitschrift) zu geraten. So wirbt man unter anderem mit einem Spruch des Philosophen Elias Canetti: «Wenn das Telefon nicht klingelt – ist es für mich!» Nach dem Besuch des «Sanctum»-Stress empfiehlt sich eine Mitgliedschaft im Zeitverzögerungsverein, Jahresbeitrag 75 Euro, gegründet 1990 (!), um die heilige Achtsamkeit in den Betriebsalltag mitzunehmen. Die Zeit­verzögerer verpflichten sich «zum Innehalten, zur Aufforderung zum Nachdenken dort, wo blinder Ak­­tivismus und partikulares Interesse Scheinlösungen produzieren».

 

 

Hotel statt Kirche
Zu «Sanctum» – das Heilige, das Heiligtum – gehört unweigerlich die Sache mit Gott, mit der Religion. Die Kirchen sind leerer und leerer, ausser an Weihnachten. Bieten Hotels Ersatzdienstleistungen für die Sinnsuche, die (früher) die Kirchen angeboten haben? In diesem Jahr sind zahlreiche Mitteilungen zu Retreat-Angeboten in Hotels bei der «Hotelier»-Redaktion eingetroffen. Ein Hotel warb mit einem «preisgekrönten Pionier der «ganzheitlichen Auszeit». Auch er bot ein «kuratiertes Angebot» mit «international renommierten Lehrenden» und einem «unverwechselbaren Spirit» an. Von da ist es nur ein kleiner Schritt zum Guru, zum Verkünder der frohen Botschaft, zum Lehrer und zum Heiligen Geist. 

Ein etwas handfesterer Retreat wurde als «exklusive Experience» unter dem Titel «Wilde Zeiten» ange­boten. Seine Schwerpunkte waren «Gestaltung als Begegnung, als Resonanz», bei der «Menschen, Ideen und Handwerk» ineinandergreifen. «Drei Tage zwischen Küche und Werkbank, Jagd und Yoga, Wildbret und Wein sowie dem Bergwind zuhören.» Den Teilnehmenden des «Wilde-Zeiten-Retreats» blies der Bergwind möglicherweise wie «ein Brausen vom ­Him­mel, wie von einem gewaltigen Wind» ins Gesicht. So beschreibt die biblische Apostelgeschichte 2.2 (Pfingsten) den Heiligen Geist. Der «gewaltige Wind» sollte den Menschen die Erkenntnis der göttlichen Wahrheit ins Ohr blasen.

 

 

Hotel im Kloster
Um der Sehnsucht vieler Menschen nach Stille, Sinn und Spiritualität nachzukommen, bieten Klöster und kirchliche Organisationen verschiedene Mög­lichkeiten. Dazu gehören Exerzitien, Einkehrtage, Retreat-Tage oder das Angebot «Kloster auf Zeit», wie es das Hotel Kloster Disentis ausschreibt. Auch dort muss man mindestens drei Nächte im Kloster bleiben und hat keinen Fernseher im Zimmer. Dabei nimmt man am Klosterleben teil. Auf der Webseite heisst es: «Finden Sie Ruhe für sich, Ihre Fragen und Gedanken, aber auch Ihre Projekte, Pläne oder Träume.» Das Kloster-Hotel Fischingen wirbt mit ehemaligen Mönchszellen als Hotelzimmern. Angeboten wird ein «Mind Break: Eine Einführung in die Praxis der Achtsamkeit. Eine Pause von der Betriebsamkeit des Alltags».

Angebote ohne Hotel
Das Pfarrblatt des Kantons Bern ist in seiner Ausgabe vom 8. August 2025 der Frage nachgegangen, was kirchliche und weltliche Sinnsuche-Angebote unterscheide. «Auf Gott hören oder achtsam präsent sein?», titelte ein Artikel, der säkulare und kirchliche An­­gebote, die Menschen bei der Suche nach «Stille und Sinnhaftigkeit» helfen wollen, einander gegenüberstellte. Gezeigt wurde das ökumenische, schweizweite Projekt «Grosse Exerzitien im Alltag». Wer an den Exerzitien teilnimmt, soll sich bis Pfingsten 2026 ­«täglich Zeit für Stille» nehmen. «Das eigene Wohl­befinden ist nicht das Ziel», erläuterte Nicole Macchia, Gemeindeleiterin in Thun. Es gehe darum, «sich Raum zu schenken. Wenn ich achtsam mit mir in Kontakt bin, gebe ich Raum für Gott».

Die säkularen Angebote sind vielfältig. Sie reichen von Kursen der Migros Klubschule zu Achtsamkeit, Entspannung, Yoga etc. bis zu individuellen Begleitungen und Kursangeboten von Achtsamkeitstrainern oder Meditationslehrerinnen. Bei weltlichen Retreats geht es meistens um das «eigene Wohlbefinden» in unserer gestressten Welt. Meditationslehrer Reto Weisshaupt erläutert im Pfarrblatt-Artikel die Absicht des Kurses «Mindfulmind». Im Stille-Retreat gehe es um das «wertfreie Spüren und Schauen». Auch um «etwas Grösseres, das uns verbinde und leite». Da er den Begriff des «Göttlichen» nicht verwenden will, spricht der «ehemalige Katholik» von «Essenz». 


 

Heiliger Bimbam 
An Heiligabend arbeiten Hotelièren und Hoteliers mit ihren Teams für das Gelingen des Weihnachtsfests und der folgenden Weihnachtstage. Besinnlich und ruhig wird es für sie nicht. Allenfalls taucht sogar der Heilige Bimbam auf. Der Heilige Bimbam ist in ­keinem Heiligenverzeichnis der katholischen Kirche verzeichnet. Er müsste erst noch zur Ehren der Altäre erhoben werden. Obwohl kein Heiliger, scheint er in der Hotellerie stets präsent zu sein. Er erscheint in der Regel, wenn es einen kleinen Schreck gibt. Der ­heilige Bimbam, der scherzhafte Fluch, begleitet das Missgeschick, nicht die Katastrophe. Nahe Verwandte sind «meine Güte» oder «oh je» (Kurzform für Jesus). Auch ein erfreuliches Erstaunen oder eine Über­raschung werden oft vom «Heiligen Bimbam» be­­gleitet. Der sanfte Geselle dürfte da und dort an ­Heiligabend in einem Hotel auftauchen. Dabei wird er selbstredend bemüht sein, den guten Ton nicht zu verletzen, der diesem heiligen Abend angemessen ist. 


Einen frohen Heiligabend, soweit es unter den gegebenen Umständen möglich ist, wünsche ich allen in der Hotellerie und Gastronomie, die in diesen Tagen für die Andern an der Entspannung, am Schönen und am Sinn arbeiten. 

 

Sanctum 2.0 

Nach der Premiere im Sommer kehrt das Mindful-­Movement-Konzept Sactum im Januar 2026 ins «The Chedi Andermatt» zurück. «Die erste Ausgabe begeisterte», so eine Medien­mittei­lung vom November, «mit kraftvollen Momenten der Acht­samkeit von energiegeladenen Sessions auf dem ­Gletscher bis zu stimmungsvollen Ritualen bei Sonnenuntergang». Das Bedürfnis nach «Bewegung, Musik und Stille», verbunden zu einem «besonderen Erlebnis», scheint ungebrochen. Dabei suche man in Andermatt nicht ein klassisches Workout, «sondern ein Ritual für Präsenz, Kraft und Bewusstsein». ­Feierliche Rituale in der Natur des Urserentals – «vom Sunset-Opening auf dem Gütsch bis zur Fire Ceremony in der Däm­merung» – hätten der Sanctum-Woche besondere «Intensität und Tiefe» verliehen, heisst es weiter. Im Januar sollen ­«Wanderungen, Schneeerlebnisse, achtsame Bewegungs­sequenzen und kulinarische Begegnungen im «The Chedi Andermatt» den Teilnehmenden «besondere Sanctum-Energie in einem neuen Licht erfahrbar machen». mm/phg

 

Wer glaubt noch ans heilige Christkind?

Ebenfalls am 23. Juni 2025 meldete sich das Bundesamt für Statistik. Seine Botschaft: In der Schweiz gehören immer weniger ­Menschen einer Religion an. Der Anteil der Bevölkerung, der religiöse Praktiken ausübt, nimmt weiter ab. Dennoch spielen Religion oder Spiritualität für eine Mehrheit der ­Bevölkerung in schwierigen Lebensmomenten oder bei einer Krankheit weiterhin eine Rolle. 

Immer weniger Personen besuchen Gottesdienste, verfolgen religiöse oder spirituelle Veranstaltungen im Radio, Fernsehen oder Internet, nehmen sich Zeit zum Beten oder für die regelmässige Lektüre religiöser Bücher. Die Lektüre spiritueller Bücher, Zeitschriften oder Beiträge im Internet hat dagegen in den letzten zehn Jahren zugenommen (von 13 auf 20 Prozent).

Immer weniger glauben an Gott
Der Glaube an Gott ist in der Bevölkerung immer weniger ver­breitet. Während im Jahr 2014 noch 46 Prozent der Befragten angaben, an einen einzigen Gott zu glauben, waren es 2024 nur noch 38 Prozent. Gleichzeitig hat der Anteil der Personen zugenommen, die weder an einen noch an mehrere Götter glauben oder an deren Existenz zweifeln. Diese Entwicklung ist auch bei der römisch-katholischen (von 20 auf 26 Prozent) sowie bei der evangelisch-reformierten Bevölkerung (von 23 auf 32 Prozent) festzustellen.

Hilfe in schwierigen Momenten
In schwierigen Momenten des Lebens und im Falle einer Krankheit spielen Religion oder Spiritualität für die Mehrheit der Be­­völkerung weiterhin eine «eher» (56 Prozent) oder eine «sehr wichtige» (52 Prozent) Rolle. Für fast die Hälfte der Bevölkerung hat Religion oder Spiritualität eine Bedeutung für ihre Einstellung gegenüber der Umwelt, bei der Erziehung der Kinder trifft dies auf 45 Prozent der Eltern zu. In allen untersuchten Bereichen haben Religion oder Spiritualität für Frauen «eher» eine Bedeutung als für Männer. mm/phg

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