Ein Medienhype flutet Gstaad. «The Palace» – ein neuer Film von Roman Polanski. «Gstaad» – das frühe Meisterwerk des renommierten niederländisch-deutsch-amerikanischen Bestsellerautors Arnon Grünberg erstmals auf Deutsch. «Madame Gstaad» – das Buch zur Lebensgeschichte von Emilie Steffen-von Siebenthal und ihrem Wirken zum Werden des Sehnsuchtsorts Gstaad fasziniert. Und immer spielt das «Gstaad Palace» eine Hauptrolle. Wir werfen einen Blick auf alle drei Kunst- und Kulturprodukte.
«The Palace» – ein Film zwischen Sozialkritik und Klamauk
Die Marke Gstaad steht heute weltweit für Charme und diskreten Luxus mit Understatement. So präsentiert www.Gstaad.ch die eigene Destination. Mit dem Understatement ist es allerdings so eine Sache. Im Film «The Palace», der Mitte Januar Premiere in den Schweizer Kinos hatte, lässt der neunzigjährige Regisseur Roman Polanski ein beachtliches Senioren-Staraufgebot auftreten: Mickey Rourke, John Cleese, Fanny Ardant, Oliver Masucci. Die Musik schrieb der Oscarpreisträger Alexandre Desplat. Ob die «ehemaligen Weltklasseschauspieler» wegen der «Aussicht auf erholsame Tage oder Wochen in Gstaad», wie Filmdienst.de schreibt, mitmachten? Sollte der Film, der vor zwei Jahren im «Gstaad Palace» gedreht wurde, der komisch-komödiantische Schlussstein im weiten Filmbogen von Polanski sein?
Karriereende?
Filmkritiker hoffen es nicht. Der Tages-Anzeiger schreibt: «Man wünscht dem Regisseur von ‹Chinatown› (1974) einfach eines nicht: dass er mit diesem Film seine Karriere beendet.» Das Onlinemagazin Filmstart.de meint: «Intrige» (2019) wäre ein «absolut würdiger Abschied» für ihn gewesen. «Aber nun man muss fast schon hoffen, dass Polanski in vier Jahren (dann mit 94) noch einmal einen raushaut.»
Die meisten Filmkommentare lesen sich mehr als Urteile, denn als Diskussionsbeitrag zu «The Palace»: «Eine ziemliche Enttäuschung», Komödie mit «gut abgehangenem Altherrenhumor», «Gags aus der Mottenkiste», «aus der Zeit gefallene Komödie» mit Figuren aus «grob gepinselten Karikaturen» bzw. «durchgängig eindimensionalen Pappkameraden». Es sei «jammerschade um das hier versammelte (und vergeudete) schauspielerische Potenzial.»
Sozialkritik
«The Palace möchte eine Parodie auf die Exzentrik von Reichen sein», entpuppe sich jedoch als «Schmierentheater». Im Kritikerchor gibt es zwei Ausnahmen, die sich den einen oder andern Solopart herausnehmen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schreibt, Polanski schaue «mit bösem Lächeln auf die Marotten der Superreichen». Sie gesteht dem Film zu, sich «nicht um politische Korrektheit» zu scheren. «Am Tisch der sozialkritischen Filme», so die Frankfurter, nähme sich «The Palace» «wie der rüpelhafte Onkel aus, dem egal ist, wie sein Ton oder Benehmen ankommt – man schämt sich ein bisschen für ihn und bewundert gleichzeitig seine Kompromisslosigkeit». Der andere Solist, das Kulturmagazin Perlentaucher.de, relativiert: «So schlecht ist der Film nun auch nicht.» Polanski lege das Augenmerk auf die «komödiantische Grundformel» und «nicht darauf, die offensichtlichen Machtverhältnisse als weltbewegende Erkenntnis auszubreiten.» Meint aber auch – «irgendwie klemmt die Zündung» bei diesem «Schabernack».
Zeitgeschichte
Silvester 1999 bildet den Rahmen des Films. Die grosse Unsicherheit beim Millennium-übergang ins Jahr 2000 hängt über dem Fest. In diese «spezielle Panik» baute Regisseur Polanski echte Zeitgeschichte ein. Die Rücktrittsrede des russischen Präsidenten Boris Jelzin am Silvesterabend 1999, gefolgt von der Antrittsrede seines Nachfolgers Wladimir Putin. Die Kritik von Filmstart.de sieht diesen politischen Input als «gelungenen Moment», als «bitter-ironisches Zeitdokument». Denn Putin verspricht in der zitierten Originalsequenz des russischen Fernsehens für «den Erhalt der Meinungs- und Redefreiheit einzutreten». «Wenig Fortune mit dem welthistorischen Timing des Films», attestiert Filmdienst.de Polanski. Der einmontierte originale TV-Ausschnitt zeuge von «schlechtem Geschmack».
Vier
Zwei Tage nach dem Kinostart in der Schweiz habe ich mir «The Palace» in Luzern angesehen. Mit mir waren noch drei weitere Personen im Saal, der für 200 Personen Platz böte. Ein Kino-Highlight war es nicht. Ehrlich, hätte ich nicht darüber schreiben wollen, ich wäre in der Pause gegangen. Der Millennium-Bug ist 2024 ein absolut abgestandenes Null-Thema. Das Film-Schneckentempo ist, selbst für einen Ü60 wie mich, trotz oder gerade wegen der Senioren-Schauspieler-Kombo, kaum zu ertragen. Es war ein verschenkter Kinoabend.
«Gstaad» – Warnung: ein internationaler Roman, «wie ein Beil»
«Gstaad» ist ein literarisches Meisterwerk des niederländischen Autors Arnon Grünberg. Jetzt ist es erstmals auf Deutsch erschienen. Es hatte vor rund zwanzig Jahren unter dem Titel «Gstaad 95-98» in den Niederlanden für Furore gesorgt. Angesiedelt ist der Roman ist in Baden-Baden, Stuttgart und im «Palace» in Gstaad. Die Geschichte, die zwar «düster, ekelerregend ist und grausame Morde und Tode in Serie bietet», ist aber zugleich auch «unbestreitbar faszinierend». So urteilt der Literaturkritiker Marius Müller (Buch-Haltung.com). Und zur Lektüre meint er: «Seien sie gewarnt.»
Arnon Grünberg, geboren 1971 in Amsterdam, wohnt in New York und Amsterdam. Seine Bücher wurden in 27 Sprachen übersetzt. Er ist mit allen grossen niederländischen Literaturpreisen ausgezeichnet. Zuletzt (2022) erhielt er den renommierten Johannes-Vermeer-Preis. «Gstaad» ist die Geschichte einer obsessiven Mutter-Sohn-Beziehung. Grünberg führt mit dem Roman in die «menschlichen Abgründe hinab und dann wieder auf die Hügel und Berge bis nach Gstaad.»
Berufsmodell: Hotelgäste bestehlen
François Lepeltier, der Hauptprotagonist, ist ein ungewolltes Kind, das in einem Badezimmer eines Heidelberger Hotels gezeugt wurde. Der Vater, ein Hotelgast, starb kurz nach der Geburt von François an Krebs. Die Mutter, ein Zimmermädchen, war bereits zuvor in Anstellungen auch vergewaltigt worden. Sie suchte für sich und ihr Kind einen Lebensweg und fand ihn im Bestehlen von Hotelgästen und Hochstapelei. Ein Modell, das später auf François und seine Tätigkeiten abfärben sollte. Die damit verbundenen häufigen Arbeitsplatzwechsel waren so immer eine Flucht. Die letzte führt ins «Palace» nach Gstaad. Diesem Umstand verdankt das Buch seinen Titel, obwohl Grünberg auch Baden-Baden oder Stuttgart aufs Cover hätte setzen können.
Eine Mixtur aus krimineller Energie und «fehlgeleiteter libidinösen Energien», die François auf seine Mutter richtet, ergibt einen grotesk, düsteren Schelmenroman und das frühe literarische Meisterwerk Arnon Grünbergs. Dessen Exposé, meint der Literaturkritiker Thomas Combrink in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, hätte von Sigmund Freud stammen können.
Wer nichts werden kann …
Hatte sich François in Stuttgart noch als Zahnarzt ausgegeben und betätigt, wechselte er mit Gstaad im «Palace» nicht nur den Ort, sondern auch die Profession. Er begann als Portier, wurde Skilehrer und als Höhepunkt stieg er zum Sommelier auf. Mit dieser Überlebensstrategie reüssierte er. Der Aussenseiter, der eigentlich nichts werden konnte, wurde, was er spielte. Vielleicht ist das die Essenz der Lebensgeschichte von François Lepeltier im «rabenschwarzen, sarkastischen Roman, der seine Leser abwechselnd lachen und schaudern lässt», wie der Verlag «Die Andere Bibliothek» in seiner Ankündigung schreibt. Vielleicht noch treffender, weil drastischer, sagt es die niederländische Zeitung Handelsblad NCR: «Ein Buch wie ein Beil.»
«Madame Gstaad» – drei faszinierende Biografien zum Mythos Gstaad: Emilie Steffen, ihr Sohn Robert und das Palace
Gstaad steht für das Menuhin Festival & Academy, den Hublot Polo Cup, die Country Night oder für das Tennis Swiss Open. Seine touristischen Ursprünge aber führen Gstaad immer wieder auf ein Luxushotel zurück. So heisst es auf www.palace.ch: «Das Gstaad Palace verdanken wir ein paar mutigen Pionieren. Zuerst bauten sie eine Eisenbahn von Montreux bis Zweisimmen. Ein visionärer Dorflehrer errichtete mit Investoren aus Lausanne das erste Luxushotel im Dorf und eröffnete 1913 unser ‹Palace› am Oberbort.» Wer war der visionäre Dorfschullehrer? Und vor allem: Wer war seine Mutter Emilie?
Es war Robert Steffen, der Sohn von Emilie Steffen-von Siebenthal, der Sohn von «Madame Gstaad». Emilie, eines von 14 Geschwistern aus einer armen Familie, eine Frau ohne Schulbildung, wurde mit 48 Jahren Witwe mit fünf Kindern. 1898, vier Jahre nach dem Alkoholtod ihres Ehemannes, des Bäckers Benz Steffen, ging der Dorfbrand in Gstaad von ihrem brennenden Haus aus. Sie wurde zur Schuldigen für die Katastrophe gemacht und als Brandstifterin diffamiert. Trotzdem wurde sie zu einer prägenden Persönlichkeit in der Entwicklung Gstaads zum aufblühenden Tourismusort. Nachgezeichnet haben diesen aussergewöhnlichen und faszinierenden Lebensweg Gottfried von Siebenthal und seine Tochter Andrea im neuen historischen Roman «Madame Gstaad». Erschienen ist das Buch kürzlich im Weber Verlag, zu dem auch das Fachmagazin Hotelière gehört.
Emilie hatte die Chance, aus ihrer Familie zu entfliehen und nach Genf zu ihrem Bruder Karl zu gehen. Er arbeitete als Portier im «Hotel des Bergues», wo sie eine Anstellung als «femme de chambre» bekam. Nach zwei Jahren verpflichtete sie ein Gästepaar und sie folgte ihm in ein Schloss nach Fontainebleau (1867). Weil ihr Vater im Sterben lag, ging es 1873 zurück in die Heimat.
Visionär
Dort veränderte die Eisenbahn alles. Hotels entstanden. Das erste war jenes am Bahnhof. Sein Erfolg, so ist im historisch-biografischen Roman zu lesen, habe die «Bauwut der Einheimischen angespornt». Es folgten das «Hotel National» und das «Grand Hotel Alpina» (siehe Titelgeschichte in diesem Heft). Emilies Sohn Robert hatte Visionen für sein Dorf. Von vielen Einheimischen wurde er ein «Spinner oder Fantast» genannt. Sein Traum war ein Luxushotel, ein Palace. Dafür hatte er, der Dorfschullehrer, seit der Ankunft der Eisenbahn in Gstaad, angefangen, «kleinere Parzellen am Oberbort zu kaufen. «Für Robert kam nur das Oberbort für den Bau eines Luxushotels in Frage, wegen der schönen Aussicht und der guten Besonnung.» Zudem wollte er gewusst haben, dass das dort gelegene «Hotel Alpina» bereits nach der ersten Saison rentiert habe.
Koloss
1811 wurde die Aktiengesellschaft des «Palace»-Hotels gegründet – «70 Tage Wintersaison und 30 Tage Sommersaison» wurden prognostiziert. «Dies schien mir dann doch etwas übertrieben», meinte seine Mutter Emilie. «Ich habe mich aber davor gehütet, ihm dies zu sagen.» Als ihr Robert die Pläne gezeigt hatte, war sie erschrocken: «Was ich da sah, war kein Hotel, sondern ein Koloss». Acht Stockwerke, 250 Betten, 90 Bäder – «eine wahre Sensation». Nach knapp zwei Jahren Bauzeit wurde des «Palace» im Dezember 1913 eröffnet. Robert managte den Hotelbau und hatte dafür seinen Job als Sekundarlehrer aufgegeben. Die «Palace»-Eröffnung, so meinte seine Mutter, «war wohl die Krönung im Leben meines Sohnes Robert».
Kuss und Skiclub
Emilie war als Witwe die Bäckersfrau geblieben. Dabei sei sie «stets irgendwie das Zentrum des Dorflebens gewesen», blickte sie beim «Palace»-Start auf die fünfzehn Jahre seit dem Dorfbrand zurück. «Der Kontrast von jener Realität zu dieser war ungeheuerlich.» 1912 hatte sie ihre Bäckerei an ihren Grossneffen Adolf und seine Frau, die Bauerntochter Martha Bach verkauft. Die hatte «allem Anschein nach» von ihrem Vater «eine schöne Mitgift» erhalten. Den Erlös des Verkaufs teilte Emilie mit ihren Kindern. Robert baute sich mit dem Geld das «Chalet Viola» hinter dem «Palace».
Emilie Steffen-von Siebenthal starb 1922 im Alter von 76 Jahren. «Verbittert» und «oft auch einsam» schaute sie auf ihr Leben zurück. Sie sah aber auch Positives: «Ich sehe, wie die Armut und die Jahre in der Fremde mich gefordert und geprägt, mir aber doch auch Unabhängigkeit verliehen haben.» In besonderer Erinnerung blieb ihr die Einweihung der Montreux-Oberlandbahn MOB, «als mir der Direktor der Eisenbahngesellschaft die Hand geküsst und mich ‹Madame Gstaad› genannt hat.»
Robert, der auch ein begabter Fotograf war und sich zeitlebens dem Aufbau des Gstaader Fremdenverkehrs widmete, starb 44-jährig an einem Krebsleiden (1923). Er war Mitgründer des Verkehrsvereins und des Skiclubs gewesen. 1908 warb er mit einem Inserat im Berner «Bund» für den ersten Skikurs in Gstaad. Zwanzig Personen wagten die Ski-Abenteuer in diesem «seltsamen Sport», der zu einer wesentlichen Attraktion der ganzen Region wurde.
Phönix
Vater und Tochter Gottfried und Andrea von Siebenthal ist ein vorwärtsstrebender, nie langatmiger historischer Roman gelungen. Es ist ihnen dank der vielen sorgfältig eingearbeiteten Originalquellen, ungezählten gehörten und gesammelten Geschichten und Anekdoten ein beeindruckendes, filmreifes Doppelporträt gelungen. Zum einen jenes einer «starken Frau, die zu ihren Lebzeiten als Witwe ohne Schulbildung eigentlich keine Stimme hatte» – Madame Gstaad; zum andern jenes der Gründerzeit des Tourismusortes Gstaad, der scheinbar wie Phönix aus
der Asche stieg.
Madame Gstaad
Format 16 × 23 cm
Gebunden, Hardcover, 184 Seiten
CHF 39.–
weberverlag.ch