Die Maxime «Trinkgeld inbegriffen» ist um die fünfzig Jahre alt. Wird Trinkgeld gegeben, gehört dies den Arbeitnehmenden und geht Arbeitgebende grundsätzlich nichts an. Das hat die letzten Jahrzehnte bestens funktioniert. Weil der Zahlungsverkehr nun zunehmend elektronisch erfolgt und viele Gäste nicht mehr mit Bargeld bezahlen, müssen sich die Arbeitgebenden wieder mit dem Trinkgeld befassen. Welche Risiken damit verbunden sind, scheint man sich nicht bewusst zu sein.
Vor über zwanzig Jahren habe ich in einem Trennungsverfahren die Ehefrau eines Chef de Service in einem Fünf-Sterne-Hotel vertreten. Da die zu leistenden Unterhaltsbeiträge für die drei Kinder und die Frau wesentlich vom Einkommen des Mannes abhingen, wollte ich, dass beim Chef de Service auch ein Anteil Trinkgeld als Lohn einberechnet wird. Weil ich von der Vorgängerin des Chef de Service wusste, dass um die tausend Franken monatlich an Trinkgeld fliessen, argumentierte ich entsprechend. Die zuständige Richterin war nur mit Müh und Not zu überzeugen, dass sie monatlich 300 Franken an Trinkgeld anrechnete. Denn sie glaubte schlichtweg nicht, wie viel Geld da im Spiel war. Heute wäre es um einiges einfacher, die Höhe des Trinkgeldes nachzuweisen. Denn es wird bekanntlich zunehmend über die Kreditkarte oder eine andere elektronische Zahlungsweise wie Twint abgerechnet.
Trinkgelder wären oft sozialversicherungs- und steuerpflichtig
Sowohl in Art. 5 AVG als auch in Art. 7e der dazu gehörenden AHVG ist definiert, dass «Trinkgelder, soweit sie einen wesentlichen Teil des Lohnes darstellen», zum massgebenden Lohn gehören. Nach Auffassung des Bundesamts für Sozialversicherung ist das dann gegeben, wenn das Trinkgeld zehn Prozent des Lohnes ausmacht. Logisch ist, dass wenn diese Grenze erreicht wird, auf diesen Beträgen sowohl Arbeitgeber- wie auch Arbeitnehmerbeiträge entrichtet werden müssen. Ebenso klar ist, dass Trinkgelder dann einkommenssteuerpflichtig sind und dass sie auf den Lohnausweis gehören oder bei der Quellensteuer abgerechnet werden müssen.
Hört man sich in der Branche um, so erzielt ein erheblicher Teil der Mitarbeitenden mehrere hundert Franken Trinkgeld monatlich. Die Zehn-Prozent-Grenze wird öfters erreicht. Unklar scheint, ob die zehn Prozent auf den Jahreslohn gerechnet werden oder ob jeweils jeder Monat einzeln angeschaut wird. Die rechtliche Ausgangslage ist trotzdem einigermassen klar. Zu Zeiten, als meistens noch in bar bezahlt wurde, konnte nicht nachgewiesen werden, wie viel Trinkgeld geflossen war. Mit dem zunehmenden Verschwinden des Bargeldes hat sich die Ausgangslage wesentlich verändert. Das bisher faktisch als Schwarzgeld geflossene Trinkgeld lässt sich nicht mehr verstecken.
Risiko ist einseitig auf Arbeitgeberseite
Bekanntlich müssen Arbeitgebende die Sozialversicherungsbeiträge entrichten. Zeigt sich im Rahmen einer Kontrolle durch die Ausgleichskasse oder die Unfallversicherung, dass in den letzten Jahren mehr als zehn Prozent Trinkgelder arbeitgeberseits an einzelne Arbeitnehmende ausbezahlt wurden, hat der Arbeitgeber die darauf geschuldeten Sozialversicherungsbeiträge zu entrichten, und zwar auch den Arbeitgeberanteil. Die wenigsten Arbeitgebenden dürften sich des entsprechenden Risikos bewusst sein.
L-GAV trägt aktueller Situation nicht Rechnung
Gemäss Art. 9 Ziff. 3 L-GAV dürfen freiwillige Kundenleistungen wie Trinkgelder nicht ins Lohnsystem miteinbezogen werden. Damit ist sonnenklar, dass Trinkgelder nicht dem Betrieb gehören, sondern den Mitarbeitenden ausbezahlt werden müssen. Erlaubt ist einzig ein System, in dem das Trinkgeld auf alle Mitarbeitenden im Betrieb verteilt wird und nicht nur beim Service bleibt. Ebenso klar ist, dass die Mindestlohnbestimmungen nach Art. 10 L-GAV ohne Einberechnung der Trinkgelder eingehalten werden müssen. Also auch dann, wenn diese arbeitgeberseitig wegen der Wesentlichkeit gegenüber der Ausgleichskasse abgerechnet werden. In solchen Fällen müssen Arbeitgebende ihren Anteil an den Sozialversicherungen draufzahlen, ohne diese in irgendeiner Form vom Trinkgeld abziehen zu können.
Chance für die Branche
Die Haltung der Verbände scheint einstweilen noch zu sein, das heisse Eisen Trinkgeld möglichst nicht anzufassen. Dass arbeitgeberseitig ein latentes Risiko zu späteren Zahlungen an die Ausgleichskassen und Versicherungen besteht, wenn heute schon transparent ist, dass das Trinkgeld mehr als zehn Prozent des Lohnes ausmacht, scheint niemand zu beunruhigen. Es braucht wohl erste entsprechende Verfügungen und Gerichtsentscheide, bis man die Ernsthaftigkeit der Problematik erkennt. Dabei sollte man schon heute versuchen, über den L-GAV eine Branchenlösung zu finden. Die Arbeitnehmerseite als ein Teil der Sozialpartnerschaft könnte sich einer solchen schlecht entziehen, denn gerade sie kann sich nicht glaubwürdig dagegen wehren, wenn Trinkgelder sozialversichert werden und wenn darauf Steuern erhoben werden. Das Stigma der Tieflohnbranche liesse sich so wohl etwas korrigieren. Denn wenn die Höhe der Trinkgelder transparent wird, ist nach aussen gezeigt, dass der Verdienst in der Branche nicht so schlecht ist, wie gemeinhin angenommen.
Martin Schwegler, lic. iur. / RA
Der Autor dieses Beitrags ist seit 1994 Dozent für Arbeitsrecht an der SHL Schweizerischen Hotelfachschule Luzern. Hauptberuflich ist er in der von ihm gegründeten Anwaltskanzlei Schwegler & Partner Rechtsanwälte und Notare AG in Menznau (LU) tätig. 2020 hat er die correct.ch ag gegründet, die arbeitsrechtliche Dienstleistungen für die Hotel- und Gastrobranche anbietet. Ein Produkt der Firma ist correctTime, eine Zeiterfassung, die nach L-GAV und ArG korrekt rechnet.