«Cancel culture» in der Küche

Köche haben einen in vielfacher Weise höchst anspruchsvollen Beruf. Derzeit scheint er, um eine sensible Dimension erweitert zu werden. Setzen sie sich dem Vorwurf der «kulturellen Aneignung» aus, wenn sie Gerichte kochen, die Elemente fremder Küchen enthalten?



Als Fachmagazin berichtet der Hotelier über möglichst alle Aspekte in und ums Hotel. Dazu gehören auch Texte über Köche und ihre Koch-Philosophie; auch in der vorliegenden Ausgabe. Da ist zu lesen, dass der neue Chief Exekutive Kulinarik des The Chedi in Andermatt, Carsten Kypke, von der asiatische Küche fasziniert und inspiriert sei. Er freue sich, für die Gäste «als Besonderheit» bei jedem Gericht ein Produkt ins Zentrum zu stellen – «einmal asiatisch und einmal europäisch interpretiert».


Das FIVE in Zürich preist in der Mitteilung zur Neueröffnung, dass das Hotelerlebnis «mit einer preisgekrönten, innovativen, japanischen Küche» beginne. Und im chinesischen Gourmetrestaurant des Hauses werde «kulinarische Tradition mit kantonesischen, Sichuan-, Shanghai- und Peking-Einflüssen» serviert. Schliesslich wartet das «Soul St.» mit «Cocktails und Street-Food-Köstlichkeiten» auf. Auch das nicht unbedingt helvetische Küche, wenn «die Party schon beim Essen los geht“.

Nur noch Ländler-Musik?

Im Restaurant (!) Brasserie Lorraine in Bern wurde kürzlich ein Auftritt der Band «Lauwarm» abgebrochen. «Während dem Konzert kamen mehrere Menschen unabhängig voneinander auf uns zu und äusserten Unwohlsein mit der Situation. Es ging dabei um die Thematik ‹Kulturelle Aneignung›», schreibt das Restaurant auf Facebook. Zudem entschuldigt man sich bei allen Menschen, bei denen das Konzert «schlechte Gefühle» ausgelöst habe sowie für eigene «Sensibilisierungslücken». Die Band spielte nach Angaben des Internet-Portals watson, das einen Gast zu Wort kommen liess berndeutsche Songs, die «Elemente von Reggae, Pop und Worldmusic» enthielten. Ein User fragt: «Gibts in Zukunft nur noch Ländler-Musik bei euch? Wobei man beim ‹Schottisch› wohl schon wieder einschreiten müsste».


Rösti unter Druck?

Dass ausgerechnet «Progressive» zunehmend «jede Vermischung in Kunst, Sozial¬wissenschaften und sogar in der Küche als Diebstahl und Ausbeutung» brandmarken sei eine gefährliche Entwicklung, schreibt die NZZ. Sie befürchtet im Artikel «Kulturelle Aneignung – ein gefährlicher Vorwurf» (4.8.2022), dass Antirassismus «in Schubladendenken und Ghettoisierung» kippt. Geschlagen wird auch eine Brücke zur internationalen Küche.


«Das absolute Verbot kultureller Aneignung wäre der Tod der Kultur, die mit Selbstüberschreitung zu tun hat. Das gilt selbst für die Küche.» Konkret hinge­wiesen wird auf eine Kritik, mit der sich der Starkoch Jamie Oliver konfrontiert sah. Sein «Jerk-Rice» würde vom Original aus Jamaica abweichen. Der Autor, David Signer, Ethnologe und langjähriger Afrika-Korrespondent der NZZ kommentierte: «Kochen ist doch das Paradebeispiel für einen Schmelztiegel! Vielleicht wird demnächst auch die Rösti wegen kultureller Aneignung gecancelt. Schliesslich stammt die Kartoffel aus Südamerika.»


Erkenntnisse und Erlebnisse

Das Fremde, das Andere scheint von einer Minderheit zunehmend als Zumutung, als Angriff, als Unverträglichkeit mit dem Bekannten, dem Eigenen, dem Hiesigen gesehen. Vielfalt, Entdeckung, Überraschung, oder Neues wird darin nicht gesehen, das eine Auseinandersetzung verdiente oder verlangen würde. Vielmehr soll es verbannt werden. In der «kulturellen Aneignung» sieht man eine gesellschaftliche Unverträglichkeit, bei der auch kein Warnhinweis «Vorsicht international» genügen würde. Speisen aus der Hotelküche können Spuren oder Elemente anderer Kulturen und Küchen enthalten.

Die offene, plurale, westliche Gesellschaft mit ihren freiheitlichen Errungenschaften ist, zugegeben, nicht leicht zu ertragen, gelegentlich mühsam und anstrengend. Eine Alternative zu einem toleranten Neben- und Miteinander gibt es nicht. Wir müssen uns der Auseinandersetzung stellen. Diese bringt fast immer neue kulturelle Erkenntnisse und kulinarische Erlebnisse.

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