Dramatische Personalnot – Gründe, Sündenböcke, Spekulationen, Entwicklungen

Dramatische Personalnot – Gründe, Sündenböcke, Spekulationen, Entwicklungen

«Die Beschäftigungsaussichten in der Hotellerie und im Gastgewerbe sind weiterhin sehr positiv.» Zu diesem Ergebnis kommt der ­KOF-Beschäftigungsindikator der ETH Zürich für das dritte Quartal 2022. Die Chancen, eine Stelle zu finden waren – historisch betrachtet – noch nie so gut. Im Umkehrschluss bedeutet es: In der Hotellerie ist der Personalnotstand dramatisch.

Sehr viele Stellen in Hotels, in der Beher­bergungswirtschaft und Gastronomie ge­­nerell, sind nicht besetzt. Der Personalmangel ist an vielen Orten sogar ein dramatischer Notstand. Der KOF-Beschäftigungsindikator der ETH Zürich vom August wird in Aussicht gestellt, dass sich die positive Entwicklung trotz Ukraine-Krieg, Inflationssorgen und Pandemie-Folgen im dritten Quartal 2022 fortsetzt. Im aktuellen Quartal wird mit 17.2 Punkten ein Wert erreicht, der bisher noch nie registriert wurde («Allzeithoch»; der KOF-Beschäftigungsindikator wird seit 1993 erhoben). Die Basis ist eine jedes Quartal durchgeführte, um­­fassende Firmen-Umfrage (inkl. Hotellerie / Gastro­nomie). Ältere Zahlenreihen (seit 1992) gibt es nur für die Industrie und den Grosshandel.

40 Prozent mit Personalmangel

Prognostiziert wird vom KOF, dass «trotz des an­­spruchsvollen Marktumfelds» weiterhin eine «sehr erfreuliche Beschäftigungsentwicklung in fast allen Branchen» zu erwarten sei. Die befragten Unter­nehmen arbeiteten mit einem Bestand an Beschäftigten, der «als zu tief» betrachtet werde. Mehrheitlich wollen die Firmen die Zahl der Mitarbeitenden bis Ende Jahr erhöhen. Der KOF-Beschäftigungsindikator geht bis zum Jahresende von einem «starken Beschäftigungswachstum auf dem Schweizer Arbeitsmarkt» aus. Diese KOF-Prognosen sowie die generellen Wirtschaftsaussichten sind möglicherweise aufgrund der jüngsten Entwicklungen im Energiesektor, der akzentuierten Inflation sowie der Stärke des Frankens als Folge des Ukraine-Krieges anzupassen.

Zum Arbeitsstellen-Boom bzw. zur Personalnot sagt der KOF-Ökonom Michael Siegenthaler: «Der boomen­­de Arbeitsmarkt ist der wichtigste Grund für den grossen Fachkräftemangel in der Schweiz.» In der Hotellerie und Gastronomie, so die KOF-Umfrage, haben fast 40 Prozent der Betriebe angegeben, sie hätten nicht genug Personal, um mit der Nachfrage mitzuhalten.


Personalnot: Gründe sind diffus

Über die Gründe für die Personalnot in der Schweiz und in vielen Industriestaaten wird spekuliert. In den USA wird die «grosse Kündigungswelle» mit dem Abklingen der Corona-Pandemie in Verbindung ge­­bracht. Man spricht von einem Phänomen: mit Corona verschwanden die Arbeitsplätze und jetzt sind die Arbeitenden weg. In der Schweiz gibt es die grosse Kündigungswelle nicht. Michael Siegenthaler vom KOF beschreibt die Situation hierzulande: «Die Leute sind nicht in Massen weggelaufen von ihren Arbeitsplätzen. Jene, die gingen, gingen meist unfreiwillig.» (LZ, 8.8.22).

Sinnsuche im Job als Folge der Corona-Krise. Die Generationen Y (geboren 1980er-/1990er-Jahre), die weniger arbeiten will, um neben der Arbeit noch an­­deren Interessen nachzugehen. Alle arbeiten in der heutigen Gesellschaft weniger als früher. Die Akademisierung der Gesellschaft. Die Erklärungen sind längst nicht vollständig und erscheinen eher diffus.


Operative Tätigkeiten wertschätzen

Greifbar scheint am ehesten die Skepsis gegenüber der Akademisierung bzw. die ungenügende Wertschätzung der operativen Tätigkeiten. Laura Storrer, die neu diplomierte Hotelière der Schweizer Hotelfachschule Luzern, sieht in dieser Hinsicht sowohl die Gesellschaft als auch die eigene Branche herausge­fordert. Im Gespräch mit «Hotelière» (vgl. Seite 9) sagte sie: «Gerade in einer zunehmend akademisierten Gesellschaft müssen die operativen Tätigkeiten attraktiver gestaltet werden.» Politisch gefordert seien nicht nur die Verbände. Sie sieht darin eine gesellschaftliche Aufgabe und eine für die einzelnen Be­­triebe. «Operative Tätigkeiten müssen stärker wert­geschätzt werden und für diese Leistungen brauche es eine bessere Anerkennung.»


Akademisierung – ein «Stammtischgefühl»

Eine zu starke Akademisierung des Arbeitsmarkts in der Schweiz sieht Stefan C. Wolter, Professor für ­Bildungsökonomie an der Universität Bern nicht. Er spricht in einem Gastkommentar in der NZZ (24.8.22) von einer «Mär», von einem «Stammtischgefühl». Zwar sei die Maturitätsquote in den letzten 25 Jahren auf 45 Prozent «explodiert». Die Gründe dafür sieht er in der Einführung der Berufsmaturität und der Fachmaturitäten. Die Maturaquote in den Gymnasien habe sich seit zwanzig Jahren «von leicht unter 20 auf leicht über 20 Prozent» verändert.


Die Entwicklung der Berufs- und Fachmaturitäten erachtet er als notwendig. «Ohne diese Möglichkeiten wäre eine Erosion der Berufsbildung eingetreten.» Zudem würden die jungen Leute mit den tertiären Ausbildungen auf «die Signale des Arbeitsmarktes» reagieren, meint der Professor Wolter. Statt diese ­Entwicklung zu beklagen, sollte man ihnen «dankbar sein, dass sie freiwillig auf Jahre von Einkommen ­verzichten. Denn diesen individuellen Investitionen ist es zu verdanken, wenn die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes auch morgen noch hoch ist.»


Huhn oder Ei

Ob gesellschaftliche Notwendigkeit, Stammtisch­gefühl oder Beitrag zur Wettbewerbsfähigkeit, die Akademisierung bleibt auf der politischen Menü- karte der Verbände der Beherbergungsverbände. Zur Gewichtung des Themas hilft eine Feststellung des KOF-Wissenschafters Peter Siegenthaler, mit der er die sehr gute schweizerische Wirtschaftssituation vor der Corona-Pandemie mit dem aktuell boomenden Arbeitsmarkt verbindet: «Es braucht schlicht viel mehr Personal als vor der Krise, notabene lief die ­Wirtschaft damals auch schon gut». (LZ, 8.8.2022). Die Akademisierung eine Folge oder eine Voraus­setzung der Arbeitsmarktentwicklung und der -transformation?! Affaire à suivre.

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