Prominente aus der Sommelier-Szene: Marie-Thérèse Chappaz (Winzerin) Vor ein paar Jahren hatte ich die Gelegenheit, mit der legendären Winzerin Marie-Thérèse Chappaz durch ihren Weinberg in Fully zu wandern. Es wurde zu einem Erlebnis, das nachhaltig nachwirkt. Nicht, weil ich immer noch Muskelkater hätte, sondern weil ich jetzt weiss, welch harte Arbeit hinter ihren berühmten Weinen steckt. Inzwischen ist sie «Winzerin des Jahres SVS 2021».
Es ist ein besonderes Glück, die «Grande Dame der Schweizer Weine» im beschaulichen Fully auf ihrem Weingut Domaine de la Liaudisaz zu besuchen. Die passionierte Önologin pflegt zum Wein und ihren Weinbergen eine Art Liebesbeziehung. Die vielfältigen Rebsorten in ihren Weinbergen kultiviert sie nach den arbeitsintensiven Prinzipien der Biodynamik, denn Klima, Rebsorten, Fauna und Flora müssen bei ihr im Einklang mit der Natur stehen.
Eine energiegeladene Frau
Seit 2010 werden bei ihr alle Weine ohne Reinzuchthefen naturvergoren. Sie kreiert ihre Weine stets auf der Suche nach dem optimalen Aroma und Geschmack, die nur durch Geduld und Leidenschaft hervorgebracht werden können. Die liebevolle, gelenkige und energiegeladene Frau – das etwas zerzauste Haar seitlich kunstvoll zusammengeflochten – ist ein Wirbelwind im Weinberg. Kurz zeigte sie mir im Vorbeiwandern die alten Rebstöcke, die verknöchert auf einer der schmalen Terrassen stehen.
«Star des Schweizer Weins»
Durch die runde Brille blitzen die wachen Augen einer Frau, die nichts anderes zu sein vorgibt, als was sie ist. Die Füsse fest auf dem Boden der Fakten. Mit dem Titel «Star des Schweizer Weins» wurde die «einzige Schweizer Winzerin, deren Namen die ganze Welt kennt» von der Weinweltpresse bezeichnet. Erst spät fand die avantgardistische Winzerin die Anerkennung, die ihr am Anfang nur wenige gönnten: «Nun bin ich wohl gut akzeptiert», meinte sie trocken.
Marie-Thérèses grosse Bescheidenheit wirkt angesichts ihres enormen internationalen Renommees berührend. Diese Frau pflegt zu ihrem gradlinigen Wein eine komplexe Beziehung. Er ist ihre geistige und existenzielle Nahrung, reine Poesie und doch ein ewiges Rätsel. Mit der arbeitsaufwendigen biologisch-dynamischen Bewirtschaftung nähert sie sich seinem Geheimnis ein Stück weit.
Petite Arvine – ihre grosse Leidenschaft
Doch kommt die Sprache auf die Petite Arvine, blüht ihre Seele auf, ihr Gesicht beginnt von innen zu leuchten. Marie-Thérèse Chappaz produziert zwei Arvines – und der Ort Fully gilt als «Kapitale» dieser Traube. Keine andere Walliser Rebsorte habe eine grössere Aromenvielfalt, ein grösseres Qualitätspotenzial als die Petite Arvine, bekräftigte sie energisch.
Was empfiehlt Marie-Thérèse Chappaz?
Ich fragte sie während unserer steil abfallenden Weinbergswanderung, welchen Wein sie einem Jungen unter 20 Jahren zum Einstieg in die Weinwelt empfehlen würde? «Eine köstliche, edelsüsse Grain Noble aus botrytisbefallenen Beeren mit einem Ertrag eines Deziliters pro Quadratmeter. Ein Nektar von traumhafter Verführungskraft und Sinnlichkeit», sagte sie mit schelmischem Lächeln. Zu ihren Süssweinen empfiehlt sie Blaukäse wie Stilton mit Pain de Siecle, karamellisierte Birne, Ananasscheiben oder Apfelkuchen – oder alle gekochten Früchtedesserts.
Der berühmte Süsswein – ihr Markenzeichen
Warum ist Süsswein eigentlich zu ihrem Markenzeichen geworden, fragte ich sie während wir damals gerade die letzte Spitzkurve unter unser grobes Schuhwerk nahmen. «Weil ich immer die besten Trauben aussuche», sagte sie voller Überzeugung. Marie-Thérèse bekommt ja viele Komplimente, aber von wem bedeutet es ihr am meisten? «Von meiner Mutter», gesteht sie ganz emotional wie immer. Danach putzten wir noch unsere Schuhe und genossen ein verdientes Glas Grain noble.
PS: Marie-Thérèse Chappaz wurde vom SVS mit dem Titel «Winzerin des Jahres SVS 2021» ausgezeichnet.
13 Fragen an Marie-Thérèse Chappaz
Was erwarten Sie von einem guten Sommelier?
Er muss Wein lieben, offen und neugierig sein und keine Vorurteile haben. Er sollte die Liebe, sein Wissen und seine Passion zum Wein weitergeben und die Gäste damit bereichern.
Welcher Koch hat Sie am meisten beeindruckt?
Frédy Girardet in Crissier, als ich das erste Mal mit meinen Eltern und meinem Bruder dort war. Es war ein ausserordentliches Erlebnis, verbunden mit vielen Emotionen.
Welcher Wein hat ursprünglich Ihre Liebe zum Wein geweckt?
Mein Vater hatte einen Winzerfreund im Bordeauxgebiet, und er kaufte jedes Jahr zwei Bordeauxfässer 1ère Côte, eines kräftigen Weins, der zwar keinen hohen Alkoholgehalt, dafür aber viel Tannin und eine tiefrote Farbe hatte. Ich erinnere mich auch an eine Flasche Ermitage aus dem Jahre 1967 aus dem Wallis, einen lieblichen Wein. Der Verschluss der Flasche war mit einem Siegelwachs versehen, das mich stark beeindruckt hat und grosse Emotionen auslöste.
Welches ist Ihre Leibspeise?
Ein Raclette! Es gibt aber noch viele andere Sachen, die ich liebe, wie zum Beispiel die Poularde en demi-deuil (auf Deutsch Huhn in Halbtrauer) mit Trüffel unter der Haut, eine Elsässer Spezialität.
Wer sind Ihre Vorbilder?
Ich liebe die Philosophie und die Botschaft von Mahatma Gandhi, eigentlich generell Menschen, die sich für den Frieden einsetzen.
Welche Weinpersönlichkeit hat Sie am meisten beeindruckt?
Die lebende Legende Lalou Bize Leroy (Domaine de la Romanée-Conti) hat mich am meisten beeindruckt, und bei ihr habe ich vielleicht die besten Weine meines Lebens genossen.
Was war die mutigste Entscheidung in Ihrem Leben?
Als ich entschied, was ich in meinem zukünftigen Leben machen möchte. Mit 17 Jahren war es für mich während eines ganzen Jahrs nicht klar, ob ich lieber Hebamme oder Winzerin werden wollte. Entscheide zu treffen, ist wohl das Mutigste im Leben.
Eine Weinreise, die Sie wiederholen möchten?
Das berühmte Tokajer Weinanbaugebiet im Nordosten Ungarns, wo sie jede Traube einzeln ablesen.
Welchen Wein haben Sie immer vorrätig?
Eine gute Flasche Fendant.
Was war die beste Wein-Speisen-Kombination, an die sie sich erinnern können?
Die perfekte Heirat ist ein Gruyère-Käse mit einem alten Hermitage.
Was war der schlimmste Wein, den Sie je getrunken haben?
In Griechenland in den Ferien, ein Roséwein auf einer Terrasse. Ausserdem erinnere ich mich auch an einen Rotwein, hergestellt mit Zucker in einem Café – schmeckte wie Sirup.
Was ist für Sommeliers am Wein wichtig?
Die Degustation natürlich! Es ist ein Plus, wenn ein Sommelier den Winzer kennt und seine Philosophie, seine Arbeit usw. weitergeben kann. Der Sommelier hat ein grösseres allgemeines Wissen, kann mehr vergleichen und hat im Gegensatz zum Winzer eine grössere Farbpalette über die Weine.
Wie wichtig sind Sommeliers für Ihre Arbeit?
Für mich sind Sommeliers sehr wichtig, denn sie machen uns bekannt und zeigen uns ihre Anerkennung.