Die Menschheit hat die Möglichkeiten für eine gute Zukunft

Die Menschheit hat die Möglichkeiten für eine gute Zukunft

Megatrends, übergeordnete Entwicklungen, beeinflussen uns alle. Es sind Trends, die epochal und global sind und in alle Bereiche hineinwirken. Zukunftsforschung hilft, bessere Entscheide über unsere Zukunft zu treffen, ist Georges T. Roos, renommierter Zukunftsforscher und Co-Präsident von ­swissfuture, überzeugt. Er erläutert, wie sich Begriffe von Zeit und Zukunft ­verändern, wie und warum sich der Mensch so stark für die Zukunft ­interessiert.

Eine Frage an den Zukunftsforscher liegt zum Einstieg in unser Gespräch auf der Hand – was ist Zukunft?

Georges T. Roos: Zukunft ist, was noch nicht ist. Wie sich eine Gesellschaft aber Zukunft vorstellt, ist abhängig von den konkreten Lebensumständen und der damit verbundenen Zeiterfahrung. In der Agrargesellschaft prägte der Jahreskreislauf mit Säen und Ernten, ergänzt durch die wiederkehrenden religiösen Rituale, den Zeitbegriff der Menschen. Man spricht von einer zyklischen Zeitvorstellung, in der die Zukunft eine Wieder­holung des Vergangenen ist, und nur Kata­strophen unterbrachen den Zeitenlauf. Mit der Moderne, der Zeit unserer Grosseltern und Eltern, entwickelte sich eine vorwärtsgerichtete Zeitvorstellung. Die Zeit wurde als Pfeil gesehen, nach vorne und nach oben gerichtet. In einer linearen Zeiterfahrung ist die Zukunft nicht nur völlig anders als die Vergangenheit. Sie verspricht auch besser zu sein. Das ist der Kern des Zauberwortes Fortschritt.

Das sind historische Beschreibungen des Zukunftsbegriffs, die wir nach­vollziehen können. Fortschritt ist ­realisiert und nicht mehr unbestritten. Wie sehen Sie als Zukunftsforscher Zeit und Zukunft heute?

Heute scheint alles gleichzeitig auf uns einzustürzen. Es gelingt kaum, eine logische Abfolge zu beschreiben. Damit wird alles zu einer Art ausgedehnter Ge­­genwart. Die langfristige Zukunft gerät aus dem Fokus. Für mich ist spannend zu beobachten, dass wir seit kurzem die weite Zukunft doch wieder vermehrt beachten: Wir haben zum Beispiel langfristige Klima- und Entwicklungsziele.

Kann man also von einer Renaissance der Zukunft sprechen?

Als globale Gesellschaft stehen wir vor grossen Herausforderungen: das Klima, das Bevölkerungswachstum, neue Technologien wie Künstliche Intelligenz oder Gen-Editierung, die geopolitischen Veränderungen, um nur die wichtigsten zu nennen. Sie alle verlangen, dass wir uns mit der Zukunft beschäftigen. Grundsätzlich ist es so, dass die Menschen immer an die Zu­kunft und auch an die Vergangenheit denken. Antizipieren ist eine genuin menschliche Eigenschaft. Eine Ausbildung beginnen, ein Wohnungsumzug planen oder eine Familie gründen sind immer verbunden mit Zukunftsvorstellungen. Zukunftsforschung ist jene Disziplin, die sich systematisch und methodisch mit Zukunftsfragen beschäftigt. Wir fragen nach den Treibern, die unsere Lebens- und die Rahmenbedingungen beeinflussen.

Das klingt interessant, aber auch etwas theoretisch. Wie gehen Sie methodisch konkret vor, um die ­angesprochenen Möglichkeiten zu erforschen, um Antworten auf Zukunftsfragen zu finden?

Es gibt mehrere Methoden: Eine Methode ist die Analyse und Beschreibung von Wandlungsmustern. Daraus lassen sich so­­genannte Megatrends erkennen. Das sind übergeordnete Entwicklungen, die drei Bedingungen erfüllen: Sie sind langfristig oder epochal. Sie sind global. Und sie wirken in alle Bereiche hinein, sie sind ubi­quitär. Sie beschreiben die künftigen Rahmenbedingungen von Wirtschaft und Gesellschaft und sind mit einer grossen Wahrscheinlichkeit prognostizierbar. Be­­kannt ist zudem die Szenario-Technik. Hier werden wichtige Treiber in die Zu­kunft projiziert und zu Zukunftsbildern verknüpft.

Geben Sie ein Beispiel.

Die Bevölkerungsentwicklung der Schweiz ist hauptsächlich von drei Variablen ge­­prägt: Migrationssaldo, Lebenserwartung und Fertilität – wie viele Kinder eine Frau im Durchschnitt gebärt. Am unsichersten ist davon der Migrationssaldo. Die beiden anderen verändern sich nur sehr langsam. Die verschiedenen Szenarien zeigen für die Schweiz im Jahr 2050 eine Bevölkerung in der Bandbreite von 8,5 Millionen bis 11 Millionen. Das scheinen mir belastbare und plausible Szenarien. Auch global scheinen mir die Bevölkerungsszenarien der UNO recht genau zu sein. Die Demografie reagiert wie ein Ozeandampfer. Es dauert lange, bis ein Kurswechsel sichtbar wird.

Wir lernen also, dass Zukunfts­forschung nicht einfach die Weiterschreibung der Gegenwart oder der Vergangenheit in «die» Zukunft ist?

Ja, aber es werden in den Analysen immer auch Datenreihen aus der Vergangenheit herangezogen. Dabei sind aber auch be­­sondere Entwicklungen zu berücksichtigen, etwa exponentielle Entwicklungen, wie sie beispielsweise bei der Elektromobilität festgestellt werden können. Die Nachfrage nach Elektroautos war über längere Zeit vernachlässigbar. Aber dann schnellten die Verkaufszahlen nach oben. Bereits heute werden in der Schweiz mehr Elektroautos als Dieselfahrzeuge verkauft.

Zukunftsforscher in der Schweiz schliessen sich im Verband swissfuture zusammen, wo Sie Co-Präsident sind. Wie gross ist das Interesse am Verband?

swissfuture ist die Plattform für alle, die sich professionell mit Zukunft beschäf­tigen. Ich habe über 20 Jahre Erfahrung in der Zukunftsforschung und kann sagen, dass das Zukunftsinteresse sehr gross ist.

Was sind die wichtigsten Angebote von swissfuture?

Neben dem Austausch im Netzwerk ist es sicher die Datenbank, die alle wissenschaftlichen Studien zur Zukunft der Schweiz zugänglich macht. Zu finden sind sie auf swissfuture.ch.


Kaum jemand hat die aktuellen Krisen vorausgesehen, auch nicht die professionelle Zukunftsforschung.

Widerspruch. In verschiedenen Vorausschauen wurden alle gegenwärtigen Krisen beschrieben. Selbst mögliche Reak­tio­nen oder Vorsorgemassnahmen wurden aufgezeigt. Die Frage ist, ob man darauf ausreichend reagiert hat.

Konkret?

Putin versucht den Westen mit dem Gashahn zu erpressen. Davor haben US-Behörden schon vor Jahren gewarnt. Man hat die Warnungen der Trump-Administration in den Wind geschlagen. Selbstverständlich waren dies Beschreibungen des Möglichkeitsraum, anders gesagt, es waren mög­liche Szenarien, auf die man sich besser hätte vorbereiten können. Auch das Risiko einer globalen Pandemie hatten die Verantwortlichen in den Ländern auf dem Schirm. Nur deshalb hatten wir auch schon ein Pandemiegesetz.


Was hat eigentlich Zukunftsforschung mit Prognosen zu tun?

Das mag jetzt eigenartig klingen, aber Zukunftsforschung ist keine Prognose in einem engen Sinn. Vielmehr geht es darum, dass wir Entscheide, die einen grossen ­Einfluss auf unsere Zukunft haben, dank Zukunftsforschung besser informiert und umfassender fällen können. Prognose-Instrumente haben Grenzen. Die Entwicklung des Wirtschaftswachstums beispielsweise wird vierteljährlich revidiert, die Wetterprognosen werden sogar täglich angepasst. Beide Forschungszweige arbeiten mit Modellen und Daten und stellen Simulationen her – und eigentlich sind Simu­lationen auch eine Form von Szenarien. Die Aussage ist dann eine Wahrscheinlichkeit. Aber was genau bedeutet es, wenn die Wetter-App auf dem Mobile anzeigt: Morgen 70 Prozent Regen? Das verstehen viele Leute nicht. Einfach gesagt: Hätten wir an 100 Tagen genau die gleichen Daten, dann würde es an 70 Tagen regnen, an den anderen 30 hingegen nicht.

Zukunftsforschung spielt sich im ­Möglichkeitsraum ab, sagen Sie. Oder etwas anders gesagt, die Zukunft kommt von vorne. Lassen Sie uns ein kleines Spiel spielen. Ich präsentiere Ihnen verschiedene Zukunftsvor­stellungen oder Reaktionsmöglich­keiten auf Zukunftsprogramme. Sie sagen mir kurz und knapp, wie Zukunftsforschung auf diese Zukunftsideen reagieren kann oder soll.

Einverstanden, aber nochmals: Zukunftsforschung ist nicht Prognose.


Ist die Zukunftsforschung eine Beschreibung vergangener Zukünfte oder eine Beschreibung von in der ­Vergangenheit erhofften Zukünften?

Alle Zukunftsaussagen sind mitgeprägt von der Gegenwart, sind gesellschaftlich bedingt. Zukunftsbilder sind immer Ausdruck von Visionen, Ängsten, Hoffnungen einer bestimmten Zeit.


Ist die Zukunftsforschung auch ­politisch geprägt?

Was heisst politisch? Es gibt zwei Verständnisse von Zukunftsforschung. Das eine Selbstverständnis, so könnte man sagen, ist politisch. In dieser Herangehensweise verstehen sich die Forschenden als Agenten für eine bessere Zukunft. Sie ­wollen aufrütteln. Man spricht auch von normativer Zukunftsforschung. Die andere Ausrichtung ist die deskriptive Zukunftsforschung. Dargestellt wird, was sich ­verändert. Ich bin der Meinung, dass die Zukunftsgestaltung nicht die Aufgabe der Forscher ist. Unsere Aufgabe ist es, für bessere Informationen zu sorgen, gesellschaftliche und politische Prozesse zu begleiten oder zu beraten. Entscheidungen für die Zukunft sind von den Betroffenen zu ­treffen, urdemokratisch. Davon bin ich überzeugt.

Back to the roots – ist diese Reaktion auf die Herausforderungen der ­globalen Welt ein Mega-Gegentrend?

Nein. Die Retro-Bewegung ist in meinen Augen kein Zurück zu den Wurzeln, sondern ein sehr modernes Produkt. Und ganz sicher kein Megatrend.

Ist die Krise der neue Normalzustand, die Zukunft?

Die Zukunft ist auch nicht mehr, was sie einmal war. Wir leben in einer komple­xeren, schnelleren, informierteren Welt voller Interdependenzen. Die Verletz­bar­keit ist grösser geworden. Krisen sind häufiger und werden mehr wahrgenommen.

Less is more – sparen, reduzieren, weniger, das ist das angesagte Zukunftsmodell.

Es ist ein Negativ-Narrativ. Es ist entstanden als Reaktion auf den Lebensstil in hochentwickelten Ländern, den wir wohl ändern müssen. Unser Fleischkonsum oder unsere Mobilität sind im globalen Kontext nicht zukunftsfähig. Es stellt sich die Frage, ob es sich um eine Verzichts­doktrin oder um eine Werteveränderung handeln wird. Wir stellen beispielsweise bereits fest, dass sich die junge urbane Bevölkerung vom Auto als Prestigeobjekt gelöst hat.


Nichts tun als Zukunftsstrategie, wie sie die amerikanische Autorin Jenny Odell propagiert. Als Reaktion auf die Überforderung und Unfähigkeit der Politik, rasch wirksame Ergebnisse zu erzielen, beispielsweise beim Klimawandel.

Nichts tun ist kein zielführender Weg. Wir müssen uns mit unseren Zielen auseinandersetzen und dann die Zukunft in diese Richtung zu gestalten versuchen. In Kenntnis der Trends und Herausforderungen.


Langfristige Szenarien zu ­entwickeln, macht in unseren dyna­mischen Zeiten keinen Sinn.

Der beschleunigte Wandel ist real. Es ist sehr wichtig, die unterschiedlichen Bereiche oder Branchen sowie die Zeitspannen zu berücksichtigen, wenn Zukunftsperspektiven entwickelt werden. In der disruptiven IT-Branche ist es wenig angezeigt, Szenarien für die nächsten zehn Jahre zu machen. Beim Klima oder dem globalen Bevölkerungswachstum ist es aber wichtig, langfristige Entwicklungen ins konkrete, heutige Handeln einzubeziehen.


Hat eigentlich die Krisenresistenz der Menschen abgenommen? Es wird ja kaum mehr private, persönliche ­Vorsorge getroffen?

Meine Diagnose ist, dass die jahrzehntelange Prosperität uns alle einlullte. Das Krisenbewusstsein verkümmerte vor al­­lem bei jungen Leuten. Sie müssen es nun schmerzhaft wieder lernen.

Zum Schluss möchte ich nochmals zurückkehren zu etwas Grund­sätzlichem: Woher stammt eigentlich das Bedürfnis, in die Zukunft «zu schauen»?

Die Fähigkeit, sich räumlich und zeitlich in verschiedene Zeiten, auch in die Zukunft, versetzen zu können, ist ein evolutionärer Vorteil des Menschen. Es besteht das Be­­dürfnis, den Zufall zu reduzieren. Unsere Kultur ist das Ergebnis von Planung, Vision und Antizipation.


Astrologie und Horoskope sind in unserer aufgeklärten Zeit sehr populär.

Das ist Entertainment.


Und persönlich, was erwarten Sie von der Zukunft?

Ich bin ein Possibilist. Ich bin überzeugt, dass die Menschheit die Möglichkeiten hat, für ihre Herausforderungen Lösungen zu finden. Ob sie es tut, ist eine andere Sache. Wir haben die Fähigkeiten. Krea­tivität und Intelligenz miteinander multipliziert, brachte immer wieder Techniken und Technologien hervor, die uns in die Lage versetzten, unsere Kulturen und Zivilisationen zu schaffen. Dazu gesellt sich die Anpassungsfähigkeit des Menschen. Mit diesen drei Eigenschaften ist die Zukunft zu schaffen.




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