Kulinarisches Erbe der Schweiz in einem «gewichtigen» Buch vereint

Kulinarisches Erbe der Schweiz in einem «gewichtigen» Buch vereint

Essen und Trinken sind die existenziellsten Bedürfnisse des Menschen. Die wichtigsten Produkte, die die Ernährung in der Schweiz präg(t)en, stellt das in jeder Hinsicht gewichtige Buch «Das kulinarische Erbe der Schweiz» in bemerkenswerter Weise zusammen. Autor Paul Imhof scheut sich nicht, sich zu Entwicklungen im Nahrungsbereich klar zu positionieren. Entstanden ist ein Werk mit nahrhaften, leicht verdaulichen Ernährungskulturgeschichten.



Erben tragen nicht selten schwer an ihrem Erbe. Als Leserin oder Leser tragen wir am kulinarischen Erbe unseres Landes mindestens 1,653 Kilogramm. So viel wiegt die neue Kulinarik-Bibel der Schweiz auf meiner Küchenwaage. Sie ist kürzlich in Echtzeit erschienen. Auf 780 Seiten beschreibt Autor Paul Imhof 453 typische hiesige Produkte. Ent­stan-den ist ein in doppelter Hinsicht gewichtiges und einzigartiges Kompendium zu den Grundlagen unserer Kultur des Essens und Trinkens.

Mägde, Mönche, Mobilität
Das Werk ist ein geistiges Wanderbuch, geschmackvoll ausgestattet, unter anderem mit zwei Goldbändern, das uns kompetent und abwechslungsreich die kulinarischen Landschaften der Schweiz entdecken lässt. Die vielfältigen, gut lesbaren Beiträge servieren viele amüsante und wissenswerte Geschichten und Ge­­schichte für sehr viele Geschmäcker.

Geordnet sind die einheimischen Produkte nach ­Kantonen, wohl wissend, dass sich die Kulinarik noch nie stur und starr an Landes- oder Kantonsgrenzen hielt. Im Gegenteil, ihre Vielfalt verdankt sie seit jeher dem Austausch, dem Reisen, dem Handel, der geografischen und sozialen Mobilität. Und ganz besonders auch den Bäuerinnen, den Mägden, den Köchinnen, die die eigenen Produkte nach eigenen Rezepten verarbeiteten, oder den mittelalterlichen Klostermönchen, die Rezepte aufschrieben.



Statussymbol statt «tägliches Brot»
Die Suche nach Siedlungsraum war, so schreibt Imhof, immer auch «eine Suche nach Nahrung». Dazu be­­merkt er kritisch, dass sich dies längst geändert habe. Die Nahrung bzw. das Essen sei «heute ein Accessoire des Alltags, von der Marginalie bis zum Statussymbol» geworden. Das «tägliche Brot» habe seine «ideelle Be­­deutung» verloren, Nahrung sei zum «Unterhaltungsfaktor» geworden. Er befürchtet, dass dabei der Schatz an Wissen zum kulinarischen Erbe der Schweiz aufs Spiel gesetzt werde. Dazu würde auch die Lebensmittelindustrie mit neu entwickelten «konformvagen» Aromen (vor allem Zucker und Vanille) ihren Beitrag mit «gezielt gepushtem Geschmacksbrei» leisten.

Hart ins Gericht geht Imhof im einführenden Kapitel mit dem Veganismus. Er sieht darin einen Angriff auf das kulinarische Erbe und befürchtet gar sein Ver­schwin­den befördert nicht nur das Vergessen, sondern auch die Verfälschung der kulinarischen Preziosen. «Eine Fleischwurst ohne Fleisch ist Schwachsinn» und sei «bestenfalls eine Art gestockter Pflanzenbrei.» Veganer Käse oder Schinken seien «nicht harmlose Wortverdrehungen, sondern Irreführungen». Zugleich sieht er in der Entwicklung weg von industrieller Tiermast eine Stärkung des kulinarischen Erbes und der «artisanalen Produkte». Imhofs Buch kann auch als eine Art Rettungsprojekt gelesen werden. Gegen das Vergessen des kulinarischen Erbes, das nicht «unter Profitstreben, Gleichgültigkeit und Gleichmacherei begraben» werden soll.



Kulinarische Erbstücke 
Ein Panoptikum des Ess- und Trinkbaren, so der Untertitel des Buches von Paul Imhof. Kochrezepte finden sich im «Kulinarischen Erbe der Schweiz» nicht. Imhofs Interesse ist anders gelagert: «Zuerst das Produkt, dann das Gericht». Für die «Nationalgerichte» – Hackbraten, Zürcher Geschnetzeltes, Cordon bleu, Risotto alla ticinese, Papet vaudois etc. – fehlte der Platz, wie der Autor schreibt. Fondue, seit weniger als hundert Jahren ein «Nationalgericht», wird in seinen Bestandteilen, Gruyère, Vacherin fribourgois etc. beschrieben.

Es findet sich in den lehrreichen und unterhaltenden Texten zu den Produkten viel Überraschendes, Exotisches, Neues oder Historisches aus der schweizerischen Geschichte des Ess- und Trinkbaren. So wird auf Bärenfleisch hingewiesen, das noch 1934 in einem Kochbuch aufgetaucht sei, obwohl der «vormals letzte Bär» am 1. September 1904 erlegt worden war. Bärenfleisch musste fünf bis sieben Stunden gekocht werden, um es als Bärenfilet, -rücken,-pfeffer oder -schinken zuzubereiten.

Übrigens: Die jüngsten im Buch beschriebenen kulinarischen Erbstücke sind gut
40 Jahre im Verkauf.

Sugus, Kanton Neuenburg
Die «bonbons aux fruits» von Suchard (1826 gegründet) werden erstmals in einem Firmenprotokoll von 1931 erwähnt als «Caramels Sugus Cracovie». Sugus wurde seit 1929 in der Suchard-Niederlassung in Krakau produziert, als Lizenz eines Bonbons eng­lischen Ursprungs. Die Wortsilbe «Su» soll an Suchard erinnern. Das Krakauer Sugus-Rezept (1931) bestand aus folgenden Ingredienzien: 17 Kilo Zucker, 15 Kilo Sirup, 3 Kilo Erdnussfett, 3 Kilo Spezialgummi, 0,35 Kilo Weinsäure und etwas Vanille. Die ersten Aromen waren Ananas, Himbeere (1993 er­­setzt durch Erdbeere), Zitrone und Orange. 1934 kamen «Menthe» und 1988 «Sugarfree» hinzu. In der Schweiz wird Sugus seit «Beginn der 1930er-Jahre» produziert.

Dörrbirnen, Kanton Luzern
Trocknen und Dörren gehören zu den ältesten Konservierungsmethoden. Diese Methode macht die Lebensmittel nicht nur haltbarer, dank Wasserverlust, sondern verdichtet zudem die Aromen. Gedörrte Gartenbohnen waren ein idealer Wintervorrat, da man sie nach der Ernte problemlos ein halbes Jahr lagern konnte. In der älteren Schweizer Kulinarik spielten Dörrbohnen als pflanzlicher Eisweisslieferant eine bedeutende Rolle. Heute sind sie vom Speisezettel fast verschwunden. Gelegentlich begegnen sie einem noch als Beilage zu Rippli oder Speck zusammen mit Kartoffeln. Ein Revival bringen möglicherweise die Slow-Food-Bewegung und das ökologische Bewusstsein inkl. der Rück­besinnung auf das kulinarische Erbe.



Meitschibei, Kanton Solothurn
Das Süssgebäck – «ein schmaler Nussgipfel von einer besonderen Form» – ist in historischen Quellen des 19. Jahrhunderts für Gösgen SO erwähnt. Der nächste Verwandte, der Nussgipfel, ist seit Anfang des 20. Jahrhunderts für die Ostschweiz nachgewiesen. Die Zutaten für den Meitschi­­­bei-Teig, der eine Nacht ruhen soll, sind Mehl, Milch, Hefe, Malz, Zucker, Salz und Ei. Im «langen Hufeisen» ist eine Füllung aus gerösteten Haselnüssen, Zucker und Zimt, verfeinert mit «Orangeat oder Zitronat», versteckt.

Bauernschinken, Kanton Bern
Vier bis fünf Wochen Zeit braucht die Schinkenpöckelung mit Salz und Salpeter. Anschliessend wird der Schinken geduscht und zum Räuchern aufgehängt. Je nach «Geheimrezept» werden für den Rauch be­­stimmte Hölzer sowie Wacholderzweige, -beeren oder Lorbeerblätter verwendet. Nach der Räucherung, die eine bis mehrere Wochen dauert, wird der Schinken ge­­kocht, sonst bliebe er ein Rohschinken und würde nicht zum Hammen. Die Schweiz besteche nicht «unbedingt durch eine grandiose Vielfalt an Schinken, kennt aber erstklassige Varianten». Besonders erwähnt wird dabei die Buurehamme aus dem Emmental. In den 1970er-Jahren wurde das Bein im Schinken als störend empfunden (Gewicht, Transportkosten). Auch die Kundschaft verlangte in der wachsenden Konsumwelt nach «hübsche, runde Schinkenscheiben». Die Metzger und Grossverteiler lieferten «maschinell tranchierbaren Schinken ohne Knochen, aber mit ähnlichem Geschmack». Ein Hammen kann ein halbes Jahr und länger aufbewahrt werden. Man habe schon hundertjährige Schinken entdeckt – «allerdings unterlassen, Degustationseindrücke zu notieren». phg


Paul Imhof ist ein ­kulturelles Meisterwerk gelungen.

Autor Paul Imhof und Hans-Jörg Walter, Markus Roost und Roland Hausheer haben das kulinarische Panoptikum fantastisch ­bebildert.


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