Es gehört zum guten Ton, über die vielen Vorschriften zu schimpfen. An jeder Ecke droht ein Prozess. Erfahrene, prozessierende Anwälte aber wissen: Die Kunst ist nicht, einen Prozess zu gewinnen, sondern ihn zu vermeiden. Im beruflichen Alltag wäre man auf eine klare Rechtslage angewiesen. Hier lesen Sie, weshalb das nicht so ist.
Im Arbeitsrecht für Hotellerie und Gastronomie gibt es drei wesentliche Rechtsquellen: das Obligationenrecht (OR) als Basis, den Landes-Gesamtarbeitsvertrag (L-GAV) als branchenspezifische Ergänzung dazu und das öffentlich-rechtliche Arbeitsgesetz (ArG). Es herrscht allerdings keine klare Ordnung, wo sich was findet. Gewisse Themen sind an mehreren Orten geregelt – für Nicht-Juristen ein undurchdringlicher Dschungel.
Ein konkretes Beispiel: Im L-GAV wird beispielsweise die Probezeit anders als im OR geregelt. Die Norm aber, wonach sich Krankheit in der Probezeit verlängernd auf die Kündigungsfrist auswirkt, steht nur im OR. Im L-GAV wird definiert, wie viele Ruhetage zu gewähren sind und dass ein Ruhetag 24 Stunden im Anschluss an die Nachtruhe umfassen muss. Die Dauer der Nachtruhe muss man aber im Arbeitsgesetz nachschlagen. Ohne professionelle juristische Erfahrung hat man als Laie daher keine Chance, sich zurechtzufinden. Man ist auf Fachpersonen angewiesen. Aber auch die Fachpersonen, also die Juristen, kommen oft an ihre Grenzen.
Fristlos oder doch nicht fristlos?
Man stelle sich vor, eine Mitarbeiterin betritt in ihrer Freizeit betrunken und zu leicht bekleidet die hoteleigene Wellnessanlage und belästigt Gäste. Sofort stellt sich die Frage: Kann man die junge Dame fristlos entlassen? Im Kontakt mit dem Rechtsdienst des Verbandes kriegt man die Antwort, dass es eventuell nicht reicht, man müsse verwarnen. Ein bekannter Anwalt meint hingegen, dass dies seiner Ansicht nach ein Grund für eine fristlose Kündigung ist, letztlich aber müsse dies ein Gericht beurteilen. Nebenbei erwähnt, manchmal ist eine fristlose Kündigung gar nicht intelligent. Gerade wenn noch viele Überstunden und Ruhetageguthaben vorhanden sind, sucht man besser den Weg über eine Aufhebungsvereinbarung.
Unbestimmte Rechtsbegriffe sind zu interpretieren
Woher kommt es, dass auf klare Fragen häufig keine rechtlich klaren Antworten gegeben werden können? Es gibt im Wesentlichen zwei Ursachen: Zum einen verwendet das Gesetz zahlreiche sogenannte unbestimmte Rechtsbegriffe. Zum anderen sind die gesetzlichen Normen häufig nicht so vollständig und differenziert, dass sie auf jeden Sachverhalt des Lebens ohne Weiteres anwendbar sind.
Das Obligationenrecht regelt in Art. 337 OR die fristlose Kündigung. Dort steht, dass aus «wichtigen Gründen» jederzeit fristlos das Anstellungsverhältnis aufgelöst werden kann. Als wichtiger Grund gilt «jeder Umstand, bei dessen Vorhandensein dem Kündigenden nach Treu und Glauben die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr zugemutet werden darf». Schliesslich soll der Richter über das Vorhandensein solcher Umstände «nach seinem Ermessen» entscheiden.
Es menschelt im Gericht
Dieser Art. 337 OR strotzt nur so von unbestimmten Rechtsbegriffen. Niemand kann klar sagen, wann es für eine fristlose Kündigung reicht und wann eben nicht. Weil Richterinnen und Richter auch nur Menschen sind, menschelt es am Gericht sehr. Je nach Erfahrungshintergrund oder politischer Einstellung, vielleicht auch sogar nur wegen Sympathie oder Antipathie gegenüber Parteien oder deren Rechtsvertreter, kann es so oder anders rauskommen.
Die Gesetzesordnung kann gar nicht so geschrieben sein, dass darin für jeden Fall eine eindeutige Antwort gefunden werden kann. Die Gesetze enthalten deshalb zwangsläufig nur Regeln, welche dann auf den Einzelfall angewandt werden müssen. Ihre Anwendung führt dann ebenso zwangsläufig dazu, dass ähnliche Fälle hier so und anderswo anders entschieden werden.
Gesetze sind sehr oft lückenhaft
Wie wird der Anspruch auf Ruhetage nach Art. 16 L-GAV und deren Bezug berechnet, wenn ein Mitarbeiter während dreier Monate zu 100 Prozent arbeitsunfähig war, danach zu 30 Prozent wieder einstieg, nach einem Monat auf 50 Prozent erhöhte und erst nach drei weiteren Monaten wieder voll arbeitsfähig war? Wer den Art. 16 L-GAV liest, findet die Antwort sicher nicht. Auch der entsprechende juristische Kommentar schweigt dazu. Weil die Ruhetage im Arbeitsgesetz erwähnt sind, findet man dort vielleicht einen Hinweis. Aber auch da: Fehlanzeige. Der Ruhetageanspruch ist grundsätzlich klar, mindestens zwei Tage pro Woche. Aber wie viele Ruhetage werden faktisch bezogen, wenn der Mitarbeiter an fünf Halbtagen pro Woche arbeitet? Eigentlich hat er ja dann fünf Halbtage plus zwei ganze Tage frei gehabt. Können diese so bezogenen Ruhetage allenfalls mit einem Saldo aus früherer Zeit oder in der Zukunft verrechnet werden? Fragen über Fragen.
Kommentare sind hilfreich, aber keine Gesetze
Weil die Gesetzestexte lückenhaft sind, weil viele unbestimmte Rechtsbegriffe interpretiert werden müssen, werden oft juristische Kommentare verfasst. Gerade für das Arbeitsrecht gibt es viele solche dicken Bücher, in denen man die Details nachschlagen kann. Sobald aber in einem GAV vom OR abweichende Normen enthalten sind, helfen die klassischen OR-Kommentare nicht mehr weiter. In der Hotellerie und im Gastgewerbe haben wir immerhin die relativ gute Ausgangslage, dass in der Onlineversion des L-GAV Kommentare zu den einzelnen Artikeln enthalten sind, welche Hinweise für die Praxisanwendung geben. Allerdings sind auch diese mit Vorsicht zu geniessen: Letztlich ist der Kommentar nicht mehr als eine Meinung von Fachpersonen. Die Gerichte sind daran nicht gebunden.