Der Geschichte von Château de Sibra, südwestlich von Carcassonne, fügt Architektin Sibylle Thomke ein chancenreiches Kapitel hinzu.
Zum Sommeranfang 2021 wurde das Werk von Joseph und Pauline Villary de Fajac nach über 150 Jahren Dornröschenschlaf von Sibylle Thomke zu neuem Leben erweckt. 2017 entdeckte die Bieler Architektin das Schloss im Troubadour-Stil. Sibra ist für die Architektin zu einem Lebenswerk geworden, es ist ein lebendiges Projekt, ein experimentelles Ensemble aus Landschaft, Architektur, Geschichte, Kunst und Kultur. Schon der 15 Hektar grosse, nach englischem Vorbild konzipierte Landschaftspark mit seinen vielen alten Bäumen und Wiesen, Seen, Grotten und Rocailles, einer Imkerei, dem Jagdhäuschen und dem Rosenhain bilden an sich schon ein anspruchsvolles Projekt.
Genius Loci als Lösung
Den Kauf hat sich Sibylle Thomke lang überlegt und vorab ausgiebig recherchiert. Nicht zuletzt des grossen Landschaftsparks wegen, zog sie einen befreundeten Landschaftsarchitekten bei. Vor dem Kaufentscheid sprach sie ausserdem mit ihrem Vater. Der wollte wissen, ob sie nun völlig verrückt geworden sei. Dennoch meinte er, er würde es wahrscheinlich auch tun.
Nach weiteren ermutigenden Begegnungen und Gesprächen ging sie zügig und mit Demut ans Werk, denn der Umgang mit diesen Schätzen, mit Schloss und Park, mache demütig, so Sibylle Thomke. Ihr Credo deshalb: «Genius Loci ist die Lösung, der Ort ist bestimmend für unser Tun.» Keine leichte Aufgabe, denn frühere Generationen hatten Anbauten erstellt, die man heute so nicht mehr machen würde. Diese fallen jedoch unter Denkmalschutz und durften deshalb nicht verändert werden. Als einzigen Eingriff veränderte sie den Eingang und öffnete das seitlich gelegene Nordtor.
Das Schloss, ursprünglich Château de St. Georges de Sibre, steht an einer Wegkreuzung. Der Zugang führte durch den Hof der Ferme Ornée in der Ostachse. Dort befinden sich heute, in den ehemaligen Stallungen und Gesindehäusern, das Wohnhaus des Verwalters und dasjenige des Gärtners. Zudem der Stall für die zwei Pferde, welche die Architektin beim Kauf «erbte», sowie der Hühnerhof mit einem Designhühnerhaus.
Seitlich geht der Blick in den Park und den Garten. Ein Blumenrondell schmückt den grossen grünen Rasenplatz, von wo man den Blick kilometerweit über den See und die Bäume bis in die Berge Andorras schweifen lassen kann. Der 15 Hektar grosse Garten wurde während fünfzig Jahren vernachlässigt. Nach dem Kauf musste erst heftig gerodet werden, um die alten Bäume wiederzufinden und ihnen genügend Raum und Licht zu lassen. Der gleichzeitig freigelegte See unterhalb des Schlosses als Spiegel und Reflektion bildet ein wichtiges Element im Ensemble mit den ihn umgebenden Bäumen in ihren Grünschattierungen als eigentlichem Farbkompass.
Grosszügige, sorgfältig gestaltete Räume
Den Besucher:innen stehen fünf Gästezimmer im Schloss und mehrere Appartements in den Nebengebäuden zur Verfügung, darunter eines im «Écurie Sud», das barrierefrei ist. Die alten Getreidespeicher und die Stallungen mit Blick auf den Park und das Schloss wurden zu grosszügigen Lofts umgewandelt. Den Räumen wohnt noch heute der Geist der Zeit inne. Alle neuen Einbauten sind so konzipiert, dass sie als Möbel oder als «Haus im Haus» wahrnehmbar sind. Die weiss gekalkten Wände, die alten Decken und die Zementböden lassen viel Raum für sorgfältig ausgewählte, stimmige Möbel, zeitgenössische Kunst und garantieren ein inspirierendes Zusammensein. Im ehemaligen Wirtschaftshof lädt ein grosser Tisch zum gemeinsamen Essen ein. Weitere grossflächige Räumlichkeiten können für verschiedene Kurse, als Atelier oder als Think-Tanks gemietet werden.
Im Schloss selbst konnten die Salons im Erdgeschoss grossenteils renoviert werden, die Tapisserien wurden aufwändig restauriert. Die grosse Schlossküche wurde mit modernen Geräten ausgestattet und kann gern von den Gästen benutzt werden. Die oberen Etagen sind über ein beeindruckendes Treppenhaus zugänglich, waren jedoch in ruinösem Zustand. Hier sollten die «Chambres d’hôtes» im Stil der Zeit entstehen. Um in den Zimmern und Fluren die nur noch zum Teil und in winzigen Fragmenten erhaltenen Tapetenmuster bewahren zu können, wurde in Zusammenarbeit mit Barbara Schwärzler, Farb am Bau, Biel, gesucht. So konnte eine intensive Suche nach Möglichkeiten zur (Wieder-)Herstellung gestartet werden. Würden das Wissen aus der Vergangenheit sowie die dafür benötigte Druckmaschine überhaupt noch existieren?
Gefunden wurde beides: die Druckerei in Schweden, mit einer Maschine aus dem Jahr 1860, die in der Lage ist, die ursprünglichen Tapeten des Château fachmännisch mit den original Kreidefarben neu herzustellen. Ausgezeichnete Handwerker aus der Region brachten die Tapeten an die Wände, malten teilweise von Hand die für die Trompe-l’œil-Effekte wichtigen Fugen und Lamperien. Teilweise beschädigte oder fehlende historische Zementfliesen wurden individuell und mit grosser Sorgfalt in einer marokkanischen Manufaktur neu produziert. Die zeitlos moderne Einrichtung der Salons und Zimmer mit Möbeln aus der Sammlung der Architektin und ergänzt mit internationalen oder Schweizer Designklassikern bildet den Bezug zur Gegenwart. So entstand ein dichtes atmosphärisches Spannungsfeld zwischen traditionellem Erbe und zeitgenössischem Design.
Ein lebendiges Experiment
Sibylle Thomke stammt selbst aus einer Gastgeberfamilie und sieht Sibra als lebendiges Experiment mit einer herzlichen Gastlichkeit. Ihr Lebenswerk bietet Raum für Höhenflüge und Tiefsinn, für Nichtstun und Schaffenseifer. Das Château de Sibra möchte Inspiration sein: zum Arbeiten, Begegnen, Sinnieren, Schwelgen und um zur Ruhe zu kommen. Keinesfalls will es ein musealer Ort sein. Schloss Sibra soll ständig im Werden und in Veränderung begriffen, gedacht und gelebt werden.