Andrea Scherz ist neuer Chairman von «Leading Hotels of the World»
Mir hat mal ein Markenexperte einen klugen Satz gesagt, der mir kürzlich wieder durch den Kopf ging. Nummer 1 zu werden, das ist ein aufregendes Unterfangen, das auf Trab hält. Nummer 1 in seinem Markt zu sein, ist hingegen viel anstrengender. Oder anders gesagt: «Leading» zu werden, ist das eine. «Leading» zu bleiben, das ist eine Mission, die nie endet. Als Hotelier und Besitzer, der mit dem Hause «Gstaad Palace» auf Gedeih und Verderben verbunden ist, weiss ich dies aus eigener Anschauung. Und als neuer Chairman von «Leading Hotels of the World» ist es doppelt relevant für uns. Denn was heisst es, «Leading» zu sein – in 10, in 20 Jahren?
Blenden wir zurück. Vor 38 Jahren muss es gewesen sein. Nie vergesse ich, wie mein Vater meine Mutter, meinen Bruder und mich als 14-jährigen Nobody mit auf eine Geschäftsreise nahm. Nach New York sollte es gehen, wo die Geschäftsstelle von «Leading Hotels of the World» (LHW) war. Es war mein erster Besuch im Big Apple. Und was ich da sah, das beeindruckte mich gewaltig. Nicht nur die Hochhäuser, die Strassenschluchten in dieser Weltstadt, die nie schläft, packten mich. Am meisten in Erinnerung blieb mir nämlich eine Sitzung bei «Leading». Die Geschäftsstelle an der 660 Madison Avenue war mit technischen Zaubermitteln ausgestattet, von denen wir im Saanenland nur träumen konnten. Da standen haufenweise Computer, ein Beamer und eine automatische Leinwand. Während bei uns Hellraum- und Diaprojektor in der Schule oder für Business-Meetings zum höchsten aller Gefühle zählten, waren diese Tools sozusagen «Science Fiction». Genauso beeindruckend war die Reservationszentrale: 50 Arbeitsplätze, perfekt ausgerüstet, an denen die Telefonapparate unaufhörlich klingelten. Mein Vater war im Element, er war ein Technik-Freak, und ich habs nicht gestohlen. Als Verwaltungsratspräsident war für ihn klar: «Leading» muss führend sein auf dem Weg ins Computerzeitalter. Unter seiner Ägide wurde das komplette Global-Distribution-System eingeführt, das bis heute Reiseagenturen und Hotels digital verbindet. Auch verfolgte das damalige Board eine kräftige Expansionsstrategie. Zwischen 1973 und 1989 wuchs die Vereinigung führender Luxushotels von 70 auf 220 Häuser ausserhalb Europas an. Heute sind es 400 Häuser, die feinsten Adressen dieser Welt, die noch globaler geworden ist.
Und nun halte ich die Fäden in der Hand, und ich frage mich: Was bedeuten «Leading» und Luxus fortan? Was wünschen die Gäste überübermorgen von uns? Ist Wachstum um jeden Preis der richtige Weg für unsere Vereinigung? Eines vorweg: Die Hotels, die «Leading» heute und künftig angehören, werden gefragter sein denn je. Wieso? Weil wir alle individuell, authentisch und mit lokalem Flair unterwegs sind. Wir führen unsere Häuser mit viel Liebe, oft sind wir auch gleichzeitig Inhaber und kennen unsere Gäste, die Region und die Lieferanten persönlich. Das sind alles Werte, die wieder zählen. Gäste wollen keine austauschbaren Hotelbunker. Sie wollen Häuser mit Seele, mit Geschichte – die relativ klein und deshalb weniger überfüllt sind. Ein Thema, das gerade im Nachgang zur jetzigen Pandemie von grösster Bedeutsamkeit sein wird.
Apropos «Nachwehen»: Die Luxushotellerie, besonders in Europa, erfährt momentan eine enorme Nachfrage von kaufkräftigen Kunden, die grossen Appetit auf Suiten und Top-Zimmerkategorien zeigen. Parallel dazu steigen die durchschnittlich aufrufbaren Tagesraten auf ein nie gesehenes Niveau. Um diese halten zu können, muss der Service in diesen Häusern absolut perfekt sein. Gerade dies wird zur grossen Herausforderung, leiden wir Hoteliers doch alle unter dem weltweiten Mangel an qualifizierten Fachkräften. Indirekt laufen wir Gefahr, dass in naher Zukunft die Gäste nicht mehr bereit sein werden, schwindelerregende Raten zu bezahlen, wenn die Leistung nicht stimmt. Eine der grossen Herausforderungen, nicht nur für «Leading», ist es, kreative Mittel zu finden, wie wir zu neuen Mitarbeitenden gelangen, wie wir sie halten und stetig weiterentwickeln, damit sie mit Herzblut das Beste geben – «Leading Qualities» eben!
Gleichzeitig verändern sich unsere Gäste fundamental. Die Millionäre werden immer jünger, ihr Verhalten ändert sich schon beim Buchen. Reiseagenturen sind out, direkt buchen ist in, am liebsten digital via Hotelwebsite, allenfalls via Chat oder Mobile zum Nachfassen. Die neue Kundschaft ist smart. Sie lernt rasch und erkennt, dass auch globale Plattformen wie booking.com weder bessere Preise noch Dienstleistungen liefern. Einmal im Haus, wollen die jungen Gäste am liebsten via Smartphone mit uns kommunizieren. Jede Art von Essen, von indisch bis zum Fondue, sollte 24/7 bereitstehen. Der saftige Hamburger darf auf keiner Hotellobby-Karte fehlen. Zugleich ist gesunde Ernährung ein Muss. Prada-Handtaschen und Ray-Bans hingegen sind weniger gefragt, lieber hat man exklusive Erlebnisse – am besten drei oder vier pro Tag. Schliesslich muss man beim Instagram-Contest mithalten können.
Was mich zu einem Spagat führt, der uns bei «Leading» einiges Kopfzerbrechen bereitet. Denn wenn man ehrlich ist, ist das Thema Nachhaltigkeit in Luxushotels nur sehr schwer umfassend umsetzbar. Zu einem Tophaus gehören – zumindest aktuell – noch Buffets, viel frische Wäsche, Feuerwerk, Süd- und Meeresfrüchte, die eingeflogen werden. Einerseits pochen die Gäste auf Nachhaltigkeit, weil es sozial erwünscht ist. Andererseits erwarten sie von uns sämtliche Annehmlichkeiten wie Erdbeeren im Winter. «Leading» hat mit Hervé Houdré einen Ex-Luxushotelier zur Seite, der die «Leading»-Hoteliers berät, wie sie ihr Geschäft noch nachhaltiger ausgestalten können. Keine Frage: Wir müssen mit unseren Ressourcen und unserem Planeten sehr sorgfältig umgehen. Als verantwortungsbewusste Unternehmer wissen wir dies übrigens sehr genau, sonst hätten viele von uns nicht seit über 100 Jahren Erfolg am Markt.
Und der Markt, der verändert sich ebenfalls rasant. Grosse Brands wie Marriott oder Accor entwickeln neue Luxus-Softbrands – mit Produkten, die LHW auf die Pelle rücken. Sie locken individuelle Luxushäuser mit günstigen Membership-Preisen und ihren enormen Portfolios von Kundendaten an. Um den neuen Brands die nötige Glaubwürdigkeit zu verschaffen, sammeln sie Trophy-Assets und scheuen nicht davor zurück, Betriebe auch zu kaufen. Ich verrate kein Geheimnis, dass sie auch schon an die Türe des «Gstaad Palace» angeklopft haben. Nur eben: «Einmal leading, immer leading». Wir lassen uns nicht blenden. Wenngleich viele Hoteliers unter der Covid-Pandemie leiden mussten, darf man bei solch strategischen Entscheidungen nicht schwach werden. Und selbstverständlich schauen wir als «Leading» nicht tatenlos zu. Aber: Wir senken sicherlich die Membership-Preise nicht. Vielmehr bieten wir noch mehr Value mit Produkten und Dienstleistungen, die den Hoteliers helfen, unabhängig zu bleiben. So haben wir unseren «Leaders Club» neu aufgebaut. Heute sind es diese treuen Mitglieder, die zu den besten Kunden von «Leading» zählen und die teuersten Zimmer buchen.
Und wie stellen wir uns für die Zukunft als Organisation auf? Hierzu verfolgen wir im Board eine unmissverständliche Stossrichtung: Weniger ist mehr. Unser Hotel-Portfolio wird künftig gestrafft, denn wir wollen in puncto Qualität weiterhin Leader bleiben und Mitglieder-Hotels in unserem Kreise begrüssen, die gesund arbeiten. Wir wollen der Nummer-1-Partner für Luxushotels sein und diesen Tools an die Hand geben, die keine andere Organisation bieten kann. Innovation und Schlagkraft stehen an oberster Stelle. Den Tatbeweis dafür haben wir in schwierigsten Zeiten bereits erbracht. Verglichen mit dem Rekordjahr 2019 ging der Umsatz bei den «Leading»-Betrieben im Jahr 2021 lediglich um 37 Prozent zurück. Der Verwaltungsrat und das Team unter CEO Shannon Knapp, das in den letzten holprigen zwei Jahren das Rad bei LHW massiv neu erfunden hat, sind bereit für die Rallye im Post-Covid-Zeitalter. Die Roadmap steht.